In Leverkusen verschuldet der Torhüter einen indirekten Freistoss – weil er eine Regel nicht kennt, die es seit fast 27 Jahren gibt.

Alex Feuerherdt, Schiedsrichter
Meine Meinung
Dieser Meinungsbeitrag stellt die Sicht von Alex Feuerherdt dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Rune Jarstein war nach Spielende immer noch ein wenig perplex. "Ich wusste nicht, dass ich das so nicht machen kann", sagte der Torwart von Hertha BSC im Anschluss an den 2:0-Sieg seiner Mannschaft bei Bayer 04 Leverkusen.

Mehr News zur Bundesliga

"Ich habe den Ball erst nur berührt, nicht festgehalten. Ich habe das so mein ganzes Fussballerleben gemacht und nie hat jemand gepfiffen." Jetzt aber wisse er um die betreffende Regel. "Zum Glück ist nichts passiert."

Was den Schlussmann der Berliner so konsterniert hatte, war die Entscheidung von Schiedsrichter Patrick Ittrich, in der 70. Minute einen indirekten Freistoss gegen ihn zu verhängen – sieben Meter vor seinem Tor. Wegen einer kuriosen Regelübertretung von Jarstein.

Geschehen war zuvor dies: Weil sich der Berliner Per Skjelbred verletzt hatte, spielte Jarstein den Ball absichtlich ins Seitenaus, um seinem Mitspieler eine Behandlung zu ermöglichen. Die war dann allerdings doch nicht nötig.

Der Leverkusener Kevin Volland warf die Kugel anschliessend, wie in solchen Fällen üblich, fair zum Gegner zurück. Genauer gesagt: zum Torhüter der Hertha. Der stoppte den auf ihn zurollenden Ball kurz mit den Händen, richtete sich dann auf und verharrte einige Sekunden lang mit dem Spielgerät am Fuss.

Als sich der Leverkusener Lucas Alario näherte, nahm Jarstein den Ball auf, um ihn abzuschlagen. Doch dagegen hatte der Unparteiische etwas. Um zu begreifen, warum das so war, ist ein Blick in die Geschichte der Fussballregeln sinnvoll.

Eine Regel, die das Spiel beschleunigen soll

Noch zu Beginn der 1980er Jahre war den Torhütern eine Spielweise gestattet, die das Zeitspiel erheblich begünstigte: Zwar mussten die Keeper den Ball, wenn sie ihn mit den Händen kontrollierten, nach höchstens vier Schritten freigeben. Sie konnten ihn danach aber gleich wieder aufnehmen und weitere vier Schritte mit ihm laufen, womit das Spielchen von vorne begann.

Weil das oft zu einem nervtötend langen Halten des Balles durch die Torleute führte, modifizierte das International Football Association Board (Ifab) die Regel gleich mehrmals.

Ab 1985 durfte der Torwart den nach einer Kontrolle freigegebenen Ball erst dann wieder mit den Händen spielen, wenn ein Mitspieler das Leder ausserhalb des Strafraums berührt hatte oder ein Gegenspieler irgendwo auf dem Feld. Das machte das Spiel jedoch nur unwesentlich schneller, weil sich meist ein Mannschaftskollege an der Strafraumgrenze zum Rückpass bereitfand.

Ausserdem umgingen viele Torhüter die neue Regel, indem sie einfache, harmlose Bälle kurz mit den Händen stoppten oder bewusst abklatschen liessen, statt sie festzuhalten. Dadurch war ja keine Kontrolle gegeben, sodass sie den Ball aufnehmen durften, wenn sich ein gegnerischer Spieler näherte.

Diesem Trick schob das Ifab jedoch 1991 einen Riegel vor. Nun hiess es: "Zum Ballbesitz zählt es auch, wenn der Torwart den Ball absichtlich von der Hand oder dem Arm abprallen lässt." Absichtlich bedeutete: gezielt, planmässig – so, wie es Jarstein tat.

Verstösse sind selten geworden

Dass der Hertha-Keeper von dieser Regelung, die seit fast 27 Jahren gilt, nichts wusste, mag daran liegen, dass nur noch selten ein Torhüter gegen sie verstösst. Dementsprechend muss sie kaum angewendet werden und ist ein wenig in Vergessenheit geraten. Erstaunlich wäre es, wenn die Referees bei Jarstein bislang ein Auge zugedrückt hätten – die Anordnung lässt ihnen so gut wie keinen Ermessensspielraum.

Seit das Gesetzeswerk des Fussballs im Sommer 2016 deutlich verschlankt wurde, sucht man dort die Formulierung, die 1991 in den Regeln ergänzt wurde, übrigens vergeblich. Als bewusste Streichung wurde sie allerdings nicht kenntlich gemacht.

Dass das absichtliche Abprallenlassen des Balles durch den Torhüter auch eine Form des Ballbesitzes ist, wird vielmehr als bekannt vorausgesetzt.

Die "Rückpassregel" revolutionierte das Torwartspiel

Ein Jahr nach der Einführung jener Regelung, die Jarstein übertrat, entschloss sich das Ifab zu einer Änderung, die das Torwartspiel geradezu revolutionieren sollte: Seit 1992 verursacht der Torhüter einen indirekten Freistoss, wenn er im Strafraum den Ball, den ihm ein Mitspieler absichtlich mit dem Fuss zugespielt hat, mit der Hand berührt.

Diese sogenannte Rückpassregel nahm den Schlussleuten nicht nur eine weitere Möglichkeit, auf Zeit zu spielen, sie zwang sie auch zur Verbesserung ihrer fussballerischen Qualitäten.

Seit 1997 dürfen sie den Ball zudem nicht mehr länger als sechs Sekunden mit den Händen kontrollieren – eine Regelung, die von den Unparteiischen allerdings überaus grosszügig ausgelegt wird.

Die Vier-Schritte-Regel kippte schliesslich im Jahr 2000. Seitdem dürfen die Keeper mit dem Ball in den Händen innerhalb der sechs Sekunden so viel laufen, wie sie können und wollen.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.