Die 0:3-Niederlage im Relegations-Hinspiel hat die Hoffnungen des HSV auf eine Rückkehr in die Bundesliga auf ein Minimum schwinden lassen. Doch es gibt noch Dinge, die den Norddeutschen vor dem Rückspiel gegen den VfB Stuttgart am Montag Mut machen. Der frühere Bundesliga-Trainer Friedhelm Funkel schätzt die Lage ein.
Der Blick von Tim Walter war durchdringend und fesselnd, als der Trainer des Hamburger SV seine Mannschaft nach dem 0:3 im Relegations-Hinspiel beim VfB Stuttgart wie immer in einem Kreis zusammenrief. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Kopf sprang hin und her, um auch alle seine Spieler zu erreichen.
Die Energie schon beim Zuschauen zu spüren, der Funke sprang über, ohne dass man das Gesagte hören musste. Viel Hoffnung besteht nach diesem Ergebnis zwar nicht für das Rückspiel gegen den VfB am Montag. Doch das zarte Pflänzchen gilt es zu hegen, wenn der HSV beim fünften Anlauf den Wiederaufstieg noch schaffen will. Walter macht das als Motivator und Antreiber. Sein Glaube an die Mannschaft scheint unerschütterlich.
Doch ist das vergebene Liebesmüh oder gibt es wirklich Dinge, die Mut machen? Ja, die gibt es. "Meine Hoffnung ist der Volkspark", sagte Walter. Das eigene Stadion, der Heimvorteil, über 50.000 Zuschauer, die ohne Frage für das Wunder brennen werden. Und das beeindruckt sogar erfahrene Fussball-Grössen: "Ich war beim Derby gegen St. Pauli dort. Das Stadion und die Fans entwickeln eine unheimliche Wucht, die dem HSV helfen kann", sagte der frühere Bundesliga-Trainer
Diese Wucht brauchen die Hamburger dringend. Denn es droht das sechste Jahr 2. Liga in Folge. "Wenn man es wieder nicht schafft, wäre das ein herber Rückschlag, der schwer zu verdauen ist. Denn die 2. Liga wird im kommenden Jahr nochmal stärker", warnt Funkel.
Hertha kommt runter, Schalke auch, andere wie Fortuna Düsseldorf rüsten auf. Und, wie Walter zugibt, ist der HSV inzwischen ein normaler Zweitligist geworden. Soll heissen: Den 16. der Bundesliga und den Dritten der 2. Liga trennt auf dem Papier nicht viel, doch der Qualitäts- und der Klassen-Unterschied war im Hinspiel deutlich zu erkennen.
So gehen Fussball-Wunder
Doch Fans sind bei Fussball-Wundern ein nicht zu unterschätzender Faktor: Durch einen optimalen Verlauf werden Kräfte freigesetzt, es bildet sich eine Symbiose aus Team und Anhängern, die die Mannschaft durch ihre Unterstützung auf ein neues Level heben, dem Spiel eine ganz neue Dynamik verleihen können. Und diese Dynamik kann sich mit einem weiteren Tor schnell verselbstständigen.
Wundersame Aufholjagden gab es im Fussball schliesslich schon oft und gibt es immer wieder. "Manchmal ist Liebe grösser. Wir werden alles reinhauen, noch mal alles mobilisieren. Wir geben nicht auf. Zwischen uns und den Fans ist etwas entstanden. Und das ist sehr, sehr gross", sagte Walter. Ja, Phrasen und Durchhalteparolen haben vor solchen Aussichtslos-Spielen Hochkonjunktur.
Funkel kennt das, und der 69-Jährige weiss, wie Relegation geht, worauf es ankommt in den entscheidenden Spielen. 2011 scheiterte er mit dem damaligen Zweitligisten VfL Bochum knapp an Borussia Mönchengladbach (0:1, 1:1), 2021 schaffte er mit Bundesligist 1. FC Köln nach einer 0:1-Heimniederlage gegen Holstein Kiel den Klassenerhalt durch einen 5:1-Sieg im Rückspiel. Ein Beweis, dass ein Trainer eine wichtige Rolle spielt. Denn Funkel hatte seine Mannschaft nach dem 0:1 in der Kabine zusammengerufen und sie unmittelbar nach der Niederlage auf das Rückspiel eingestimmt.
Die richtigen Worte finden
"Und dann habe ich gesagt: 'Wir gewinnen in Kiel. Warum sollen wir da nicht gewinnen? Ich bin davon überzeugt. Ich werde euch die positiven Dinge, die wir gehabt haben, zeigen. Wenn wir die zu Ende gespielt hätten, hätten wir heute schon gewonnen. Das haben wir nicht, aber wir werden in Kiel gewinnen'", so Funkel. Er sei fest davon überzeugt gewesen, und so trat sein Team dann auch auf. "Wir sind von der ersten Sekunde aufgetreten wie eine Erstliga-Mannschaft. Kiel war sich vielleicht auch etwas zu sicher", so Funkel. Er weiss aber auch: "Ein 0:3 ist schon ein anderes Ergebnis. Da muss Tim wirklich die richtigen Worte finden."
Und solche Ansprachen können ein zweischneidiges Schwert sein. "Er sprüht vor Optimismus und Ehrgeiz", sagt Funkel. "Das ist richtig, aber es ist manchmal auch nicht so einfach, das glaubhaft rüberzubringen. Das kann auch nach hinten losgehen, dass man möglicherweise zu viel Druck aufbaut." Walter werde aber alles tun, was er für richtig halte, so Funkel: "Jeder Trainer hat seine eigene Art und Weise, auf die Mannschaft einzuwirken." Bei Walter ist es die Art, den Spielern selbst vorzuleben, was er erwartet. Aggressivität zum Beispiel, dazu Einsatz, Leidenschaft, Entschlossenheit – und eine Prise positiven Irrsinn. Das lebt Walter nicht nur im Mannschaftskreis, sondern auch 90 Minuten lang an der Seitenlinie vor. Nicht auszuschliessen, dass die Mannschaft für ihren Trainer über sich hinauswächst, denn die Zukunft Walters gilt bei einem Nicht-Aufstieg trotz seines Vertrags bis 2024 als offen. Ob das für ein Wunder reicht?
Hoffnung auf ein frühes Tor
Statistik macht nur bedingt Hoffnung. Lediglich dreimal schaffte der Zweitligist seit Wiedereinführung der Relegation 2009 den Aufstieg, der HSV scheiterte erst im vergangenen Jahr an Hertha BSC. In 78 Spielen unter Walter gelangen in zehn Partien drei oder mehr Tore. Im Februar kam der HSV nach einem 0:3 bei Aufsteiger 1. FC Heidenheim ab der 72. Minute noch zu einem 3:3. Und das letzte Duell gegen den VfB, 2019 in der 2. Bundesliga, gewann Hamburg 6:2.
Kleine Hoffnungsschimmer, mehr ist das erst einmal nicht. Doch dass der HSV nach den verpassten Aufstiegen und den Rückschlägen in der Vergangenheit immer wieder vor der Rückkehr in die Bundesliga steht, ist auch eine Qualität. Deshalb betont Walter: "Wir haben unsere Comeback-Qualität schon einige Male gezeigt, das ist ein Gen bei uns. Dass wir immer wieder aufgestanden sind, zeugt vom guten Charakter der Jungs."
Zählen wird es letztendlich auf dem Platz. "Ein frühes Tor kann Mut machen", sagt Funkel, denn das könnte in Kombination mit dem Publikum das Feuer neu entfachen und die Stuttgarter unter Druck setzen. Ein Vorteil ist die Tatsache, dass die Hamburger nichts zu verlieren haben, der VfB alles. Klar ist aber auch: Bei allem Offensivdrang und allem "Alles oder nichts" wäre ein Gegentor für den HSV das Ende aller Träume. Und dass die Stuttgarter qualitativ schlicht besser besetzt sind, hat das Hinspiel bewiesen. Da wurden dem HSV die Grenzen aufgezeigt.
Ist sich der VfB zu sicher?
Dass der VfB die Ausgangslage deshalb zu locker nehmen, sich zu sicher sein oder verkrampfen könnte, glaubt Funkel nicht. "Dafür ist der VfB zu stabil. Die bringen zu viel Selbstvertrauen mit und Sebastian Hoeness ist ein Trainer, der sehr fokussiert ist, keine Luftschlösser baut und die Mannschaft warnt vor einem möglichen frühen Gegentor." Denn das könnte dem Abend tatsächlich eine Wendung geben. Man wird es dann im Gesicht von Tim Walter erkennen.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.