Julian Nagelsmann hat aus dem Abstiegskandidaten 1899 Hoffenheim ein Team geformt, das sich auf Dauer in der Spitzengruppe der Bundesliga etablieren könnte. Das Spitzenspiel gegen den FC Bayern wird für den jungen Trainer zur Reifeprüfung - und weckt Erinnerungen an das erste ganz grosse Spiel der Hoffenheimer Vereinsgeschichte.

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Es gibt viele kleine und grosse Geschichten, die Julian Nagelsmann und seinen Zugang zum Fussball beschreiben. Diese eine ist aber gleich so schön plakativ, dass sie wirklich jeder sehen und verstehen konnte.

Wenige Minuten vor dem Anpfiff des Heimspiels gegen den VfL Wolfsburg erwähnte Nagelsmann fast beiläufig, dass er von seinen Spielern einen anderen Passwinkel beim klassischen Steil-Klatsch wünsche und dass dies auch ein gesonderter Trainingsinhalt der letzten Tage gewesen sei. Eine Marginalie im grossen Rad des Fussballs, eine taktische Feinheit.

Keine Minute war dann gespielt, als sich eben jene von Nagelsmann beschriebene und geforderte Spielsituation ereignete und Hoffenheim durch einen sauber in den Lauf des Mitspielers abgelegten Pass zu einer grossen Torchance kam.

Es ist kein Zufall, dass 1899 Hoffenheim in dieser Saison, der ersten "kompletten" Saison von Nagelsmann als Cheftrainer in der Bundesliga, einen Fussball spielt, der sich inhaltlich elementar vom grossen Rest der Liga abhebt. Da erfindet keiner den Fussball neu, aber in Hoffenheim werden alte Strukturen neu überdacht und im Zweifel aufgebrochen oder aus den Konzepten verabschiedet.

Die Mär vom Kampfsport Fussball etwa. Andere Teams der Liga definieren sich zu grossen Teilen darüber, ob und wie viele Zweikämpfe sie pro Spiel führen. Weil sie dem Gegner so im wahrsten Sinne des Wortes weh tun können. Der Zweikampf als oberstes Stilmittel. In Hoffenheim stehen Zweikämpfe überspitzt formuliert auf der schwarzen Liste.

"In jedem Zweikampf stecken Zufallsparameter, der Ball kann so oder anders wegspringen, ins Aus oder einem Gegner vor die Füsse. Der Schiedsrichter kann für oder gegen uns entscheiden", sagt Nagelsmann. Er ist auf der Suche nach anderen Wegen, um dem Faktor Zufall im Fussball so wenig Spielraum wie möglich zu lassen.

"Ich habe es lieber, dass wir den Ball gewinnen, indem wir gut verschieben, Passoptionen versperren, geschickt Druck ausüben auf den Ballführer und ihn so vielleicht zu einem Fehlpass zwingen."

Hoffenheim ist eine der Überraschungsmannschaften

Wer sich mit Jugendfussball in Deutschland befasst, wird schnell merken, dass es sich dabei in erster Linie um ein "Coaches Game" handelt. Der Trainer ist die überragende Figur, seine Ideen leiten bestens ausgebildete Jugendliche an und sichern Erfolg und Titel. Nagelsmann holte mit Hoffenheim erst die deutsche Meisterschaft und wurde mit dem jüngeren Jahrgang in der Saison drauf Vizemeister.

Es war abzusehen, dass einer wie er irgendwann in der Bundesliga landen würde. Hoffenheim wehrte schon vor zwei Jahren jegliche Abwerbeversuche seines Top-Talents rigoros ab und traute sich dann vor etwa einem Jahr, seiner grossen Hoffnung die Profimannschaft anzuvertrauen. Zu einem Zeitpunkt, als Hoffenheim ohne tragendes Spielkonzept auf den vorletzten Tabellenplatz dem Abstieg entgegensteuerte.

Seitdem ist eine Menge passiert und in dieser Saison greifen jene Mechanismen und Abläufe mit einer von Nagelsmann zusammengestellten Mannschaft, die man insgeheim erwartet hatte - aber vielleicht eben erst in einem oder zwei Jahren.

1899 Hoffenheim ist neben Leipzig und Köln die Überraschungsmannschaft der Liga, nach vier Remis zum Start gab es zuletzt fünf Siege in Folge. Manch einer mag sich schon erinnert fühlen an die Fabel-Vorrunde des kecken Aufsteigers vor acht Jahren unter Ralf Rangnick.

Nagelsmann: "Bayern auf dem falschen Fuss erwischen"

Rangnick hat die Strukturen in Hoffenheim geschaffen, von denen Nagelsmann heute lebt und die er nun immer weiter ausbaut. Er hat im Winter seinen Chefscout an RB Leipzig verloren, den Rangnick-Mann Johannes Spors. Viele hatten deshalb ein mulmiges Gefühl. Aber Nagelsmann hat die wichtige Stelle des Gegner- und Spielanalysten offenbar nicht nur adäquat neu besetzt, sondern den Bereich personell auch weiter ausgebaut.

Er lebt die Guardiola-Tuchel-Schule und jene der Baden-Württemberg-Connection, die so viele Trainer von Rang herausgebracht hat in den letzten zehn Jahren. Und er fügt seine eigenen Anleihen dazu. "Es geht immer um Inhalte", ist so ein typischer Nagelsmann-Satz, der tüftelt und probiert und dabei auch Rückschläge in Kauf nimmt.

Am Wochenende kommt es zum ultimativen Stresstest für seine Mannschaft: gegen die Bayern in der Allianz Arena. "Wir versuchen, die Bayern auf dem falschen Fuss zu erwischen. Wenn wir einen guten Tag haben und Bayern vielleicht keinen absoluten Sahnetag erwischt, dann ist in jedem Bundesligaspiel was möglich - auch in München", sagt er und wirkt dabei weder überheblich noch weltfremd.

Wenn man einer Mannschaft derzeit zutrauen könnte, den Bayern auch in deren eigenen Stadion Paroli zu bieten, dann Hoffenheim oder RB Leipzig.

Anders als Ancelotti

Guardiola sei ein Vorbild, aber was er genau von Carlo Ancelotti hält, hat er bisher nicht im Detail verraten. Die Partie in München wird auch so etwas wie das Kräftemessen zweier unterschiedlicher Trainertypen. Der erfahrene Anclotti, der sich seit zwei Jahrzehnten mit den Wehwehchen und Problemchen der Welt-Stars herumplagen muss und vieles laufen lässt mit seiner lässigen Haltung und doch so erfolgreich ist.

Gegen Nagelsmann, der mit seinem Laborexperiment namens 1899 Hoffenheim anreist, der im In-Game-Coaching offensiver und aggressiver ist als Ancelotti, der vielleicht auch eine verrückte Idee mit im Gepäck haben wird und der sich vor allen Dingen nicht wie fast alle anderen um den eigenen Strafraum verbarrikadieren wird. Sondern Hoffenheim-Fussball spielen lassen wird.

Auch das erinnert ein wenig an den letzten mit Spannung erwarteten Vergleich der beiden Teams im Winter 2008. Die Himmelsstürmer aus Hoffenheim gegen das Establishment, der aufmüpfige Rangnick gegen die Institution Ottmar Hitzfeld. In fast 200 Länder wurde die Partie live übertragen. Die Bayern siegten durch ein spätes Tor mit 2:1.

Es war ein Wendepunkt in Hoffenheims Märchenreise, in der Rückrunde ging es aus unterschiedlichsten Gründen bemerkenswert bergab. Das dürfte in dieser Saison fast auszuschliessen sein. Hoffenheim bleibt unabhängig vom Ausgang des Spitzenspiels ein Kandidat für den Europacup. Es wäre die erste internationale Teilnahme für die Kraichgauer überhaupt. Natürlich auch für Julian Nagelsmann.

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