Schalke 04 ging als Champions-League-Kandidat in die Winterpause - und spielt mittlerweile wie ein Absteiger. Was ist da passiert und welchen Anteil hat Trainer David Wagner an diesem beispiellosen Niedergang?
Es gab eine Zeit, da lag der FC Schalke 04 vor dem FC Bayern. Was sich wie eine Ewigkeit anfühlt, ist gerade einmal sechs Monate her: Am dritten Advent des letzten Jahres hatte Schalke 28 Punkte eingesammelt, war Vierter. Der Rekordmeister lag einen Platz dahinter.
Schalke in der Champions League, die Bayern in der Europa League - aus heutiger Sicht eine geradezu surreale Vorstellung. Die Bayern werden selbstverständlich wieder Meister. Und Schalke? Befindet sich, mal wieder, in einer veritablen Krise.
Schalke 04: Nur ein Sieg in den vergangenen 14 Partien
14 Spieltage sind seit diesem Tag im Dezember ins Land gezogen, Schalke siegte damals 1:0 gegen Eintracht Frankfurt. Danach folgte noch ein weiterer Sieg aus 14 Partien, erstellte man eine Formtabelle, wäre Schalke Letzter. Neun Punkte hat die Mannschaft seitdem noch eingesammelt, weniger als Union, als Werder, als der SC Paderborn.
Niemand redet mehr vom internationalen Geschäft, die in der Hinserie erzielten Punkte dienen nun als Bremsschirm im freien Flug: Hätte Schalke damals nicht schon so fleissig gepunktet, würde nun sogar der Absturz in die 2. Liga drohen. Da stellt sich automatisch die Frage: Wie, um Himmels willen, konnte es überhaupt so weit kommen?
Schalke spielte in der Hinrunde über eigenem Niveau
Zur Einordnung vielleicht ein theoretisches Modell: In der Hinserie hat die Mannschaft 29 Tore erzielt, nur der BVB, Gladbach, die Bayern und Leipzig schafften mehr. 21 Gegentore standen dem gegenüber, was der viertbeste Wert der Liga war. Ebenso die Punktausbeute (30 Punkte nach 17 Spieltagen).
An den faktischen Zahlen gemessen war Schalke ein Spitzenteam. Aber: Schon zu diesem Zeitpunkt war die Mannschaft weit über ihrem tatsächlichen Leistungsniveau angesiedelt.
Die so genannten xG-Werte, also die Zahl der erwartbaren Tore und Gegentore, wiesen sowohl mit als auch gegen den Ball andere Kennzahlen aus: Nach dieser theoretischen Berechnung hätte sich Schalkes Torverhältnis von dem faktischen 29:21 in etwa in ein 22:27 verwandelt, was konkret heruntergebrochen auf die zugrunde liegenden Partien etwa neun bis zehn Punkte weniger auf dem Konto entsprochen hätte. Und damit wäre Schalke dann nicht mehr Fünfter, sondern Elfter oder Zwölfter gewesen.
Momentan, so hat es nun den Anschein, pegelt die unbestechliche Wahrscheinlichkeitsrechnung die Schalker Saison wohl ganz gut ein.
Die Schalker Offensive funktioniert nicht (mehr)
Mit einem mutigen Ansatz aus hohem Pressing und Gegenpressing war Schalke durch die Liga marschiert. Eine Mannschaft, die in der letzten Saison beinahe abgestiegen wäre, die letztlich weniger aus Eigenleistung , sondern dank der Unfähigkeit von Hannover, Nürnberg und Stuttgart gerettet wurde.
Mit dem neuen Trainer
Harit, davor ein Sorgenkind, legte seine beste Halbserie in der Bundesliga hin. Suat Serdar, der sein Potenzial in den Jahren davor immer mal wieder andeuten, aber eben nie konstant abrufen konnte, schaffte es unter Wagner zum Nationalspieler.
Ausfälle von Harit und Serdar schmerzen
Das sah damals alles sehr vernünftig aus. Wer einen zweiten oder dritten Blick riskierte, konnte aber schon die Gefahren und Probleme erahnen, mit denen sich Schalke und Wagner mittlerweile konfrontiert sehen. Für die schweren Verletzungen wichtiger Spieler kann der Trainer nichts, die Ausfälle unter anderem von Harit und nun auch Serdar, der beiden torgefährlichsten Spieler im Kader, reissen ein kratergrosses Loch ins Mittelfeld.
Dass aber zwei Mittelfeldspieler mit deutlichem Abstand die meisten Treffer erzielt haben, ist ein Teil des Problems und führt schnurstracks zur Spielweise der Mannschaft.
Schalke konnte sich unter Wagner erstaunlich schnell ein markantes Profil im Spiel gegen den Ball aneignen, es war der Markenkern der Mannschaft. Im Positionsspiel dagegen klafften schon damals einige eklatante Lücken. Konnte Schalke nicht kontern oder über einen Standard gefährlich werden, hatte das Team massive Probleme, vor das gegnerische Tor zu kommen.
Diese Probleme halten sich nicht nur bis heute, sondern drücken derzeit so richtig durch. Wagner ist es, auch wegen der Verletzungsmisere, nicht gelungen, der Mannschaft ein tragfähiges Konzept im eigenen Ballbesitz zu verpassen, mit dem tiefe Gegner auseinandergespielt werden können.
Unterirdische Zahlen
Die sagenhafte schlechte Rückserie kommt auch wegen der Schalker Überforderung im Angriffsspiel zustande. In zwölf Spielen gelangen mickrige fünf Tore, selbst Paderborn hat in diesem Zeitraum mehr als doppelt so viele erzielt (zwölf). Dazu kommen 25 Gegentore, auch das ist der schlechteste Wert aller Klubs seit der Winterpause.
Schalke ist vorne nicht existent und hinten so offen wie zuletzt in den letzten Wochen von Wagners Vor-Vorgänger
Allerdings ist das Niveau und sind die Rahmenbedingungen bei Wagner ungleich prekärer als sie noch unter Tedesco waren. Wagner ist vor der Saison ein grosses Risiko eingegangen, als er Alxander Nübel zum neuen Kapitän der Mannschaft ernannt hat.
Nübels auslaufender Vertrag und dessen Wechselabsichten waren ein offenes Geheimnis. Mit der Aussicht, der Kopf einer neuen Truppe und das Gesicht des neuen FC Schalke zu werden, sollte Nübel vielleicht doch zu einer Vertragsverlängerung bewogen werden - ganz abgesehen davon, dass er einer der besten Torhüter des Landes zu sein und sportlich über alle Zweifel erhaben schien.
David Wagner: Keine Linie in der Keeperfrage
Wenige Tage nach dem Sieg über Frankfurt, kurz vor Weihnachten, gab Nübel dann aber seinen Abschied zum Saisonende bekannt. Für Schalke und seinen Trainer das schlimmste mögliche Szenario. Im gegenseitigen Einvernehmen gab Nübel das Kapitänsamt ab, nachdem der Druck der Fans zu gross wurde.
Insgesamt vier Mal wechselte die Nummer eins im Schalker Tor in dieser Saison nun, von Nübel auf dessen Vertreter Markus Schubert, dann wieder zu Nübel, zu Schubert und seit letzten Samstag nun wieder zu Nübel.
Einige Rochaden musste Wagner gezwungenermassen wegen Sperren und Verletzungen vornehmen, andere aus freien Stücken. Das ständige Hin und Her und die wackelige Moderation der brisanten Lage um Nübel jedenfalls dürften auch dem Trainer und dessen Standing im Klub und bei der Mannschaft ziemlich geschadet haben.
Für Schalke kam dann auch noch die Coronapause erschwerend hinzu. Die finanzielle Schieflage des Klubs wurde zu einem Dauerthema, offenbar hing kein anderer Verein der Bundesliga so am Tropf der Liga und deren Plänen für den Re-Start. Das trägt nicht eben zur Beruhigung einer vor der Pause schon verunsicherten Mannschaft bei.
Allerdings auch nicht das, was Wagner seitdem versucht zu moderieren: Schalke dürfte mit 37 Punkten auf dem Konto kaum noch in den Abstiegskampf rutschen, nach oben ist der Zug wohl auch abgefahren. Im Grunde könnte die Mannschaft ohne den ganz grossen Druck aufspielen. Nun zeigt sich aber, dass weder die Truppe so etwas wie Eigenmotivation entwickelt, noch dass Wagner eine entsprechende Vorgabe machen kann.
Zweifel statt Selbstvertrauen
Eine Niederlage im Derby gegen Borussia Dortmund kann passieren, wenngleich ein 0:4 gegen den BVB in einem notorisch fiebrigen Klub wie Schalke schwer zu verkaufen ist. Die folgenden Partien gegen Augsburg, in Düsseldorf und gegen Bremen, drei Abstiegskandidaten mit dem Rücken zur Wand, waren aber teilweise katastrophal.
Wagners ultra-defensive Taktik gegen Düsseldorf und eine Halbzeit lang gegen Bremen mag aus Trainersicht grundsätzlich erklärbar sein. Mit dem Selbstverständnis eines Klubs wie dem FC Schalke 04 hat das aber nichts mehr zu tun. Auch in einer schwierigen Phase und mit vier, fünf Ausfällen muss man gegen Düsseldorf und Bremen nicht den Offensivbetrieb fast komplett einstellen.
Das muss sich Wagner tatsächlich vorwerfen lassen: Dass er seine Mannschaft kleiner macht, als sie tatsächlich ist. Die Mischung im Team ist nicht gut, neben den drei, vier Topleuten hat sich eine Menge Mittelmass angesammelt. Aber auch diese Mannschaft sollte in der Lage sein, mit Augsburg, Düsseldorf oder Werder auf Augenhöhe agieren zu wollen.
Statt über positive Erlebnisse, über gelungene Offensivaktionen, vielleicht sogar ein geplant herausgespieltes Tor, so etwas wie neues Selbstvertrauen zu entwickeln, reihte Wagner zuletzt Zweifel an Zweifel und gab eine Marschrichtung aus, wie sie ein Viertligist im DFB-Pokal gegen eine Bundesligamannschaft verfolgt.
Vielleicht muss sich Schalke 04 nicht an den Bayern orientieren, die mittlerweile aus einem Ein-Punkt-Rückstand einen 30-Punkte-Vorsprung gegenüber den Knappen gemacht haben. Aber etwas mehr als reinen Underdog-Fussball darf der Trainer dieser Mannschaft dann schon noch zutrauen.
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