Der VfL Bochum in der Krise, der FC Bayern angeschlagen: Am Sonntag treffen beide am 8. Spieltag aufeinander. Wir haben mit dem früheren Bochumer Trainer Peter Neururer über das Chaos beim VfL, die Gründe, die Aussichten, die Situation beim FC Bayern und Trainer Vincent Kompany gesprochen.

Ein Interview

Herr Neururer, mit welchen Emotionen schauen Sie auf die aktuelle Situation beim VfL Bochum?

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Peter Neururer: Mit grosser Besorgnis. Ich habe eine emotionale Verbindung zu diesem Verein. Als ehemaliger Trainer ist es eine besondere Geschichte, wenn bei einem Verein, bei dem man selbst tätig war, Personen den Verein verlassen. Wenn man dann überlegt, in welcher Situation der VfL ist im Augenblick: Mit einem Punkt Letzter, im Pokal ausgeschieden, mit finanziellen Belastungen, mit denen man nicht unbedingt rechnen konnte, mit einer Mannschaft, die höchstens in der Lage ist, die Liga zu halten - das tut verdammt weh.

Halten Sie die Entlassungen von Trainer Peter Zeidler und Sportdirektor Marc Lettau für richtig?

Man hat irgendwann erkannt, dass Zeidler der genau richtige Mann ist für diese Mannschaft. Dann ist es vollkommen egal, welche Ergebnisse da sind. Dann muss ich zu diesem Trainer stehen. Wer hat die Mannschaft zusammengestellt? Der Sportdirektor. Von daher ist die Konsequenz, Lettau zu entlassen, eigentlich eine richtige, wenn man es von der Entwicklung aus sieht. Nur der Zeitpunkt, der ist die absolute Katastrophe. Denn diese Erkenntnisse gibt es ja wahrscheinlich schon etwas länger.

Sie finden also, dass der Trainerwechsel angesichts des harten Programms mit Bayern, in Frankfurt, gegen Leverkusen und in Stuttgart zu einem falschen Zeitpunkt kommt?

Auf jeden Fall. Ob ich nach vier oder nach sieben Spiele beurlaubt werde, ist vollkommen egal. Aber der Trainer, der vor der letzten Länderspielpause gekommen wäre, hätte mit der Mannschaft nochmal intensiv arbeiten können. Da wären einige Sachen vielleicht nicht entstanden. Und da hat man nicht reagiert. Was ist, wenn der VfL den FC Bayern schlägt, den schlägt ja gerade jeder. Dann holen sie einen Punkt gegen Leverkusen und einen Punkt gegen Stuttgart. Was macht denn der neue Trainer dann? Das Lustige ist ja auch, dass sie noch gar keinen Sportdirektor haben. Denn der müsste den neuen Trainer eigentlich holen, er muss mit ihm schliesslich zusammenarbeiten. Es ist sehr chaotisch. Eine Katastrophe.

Welche Fehler sind in den vergangenen Wochen und Monaten noch gemacht worden, dass die Bochumer in dieser Situation sind?

Dass diese Mannschaft von vornherein gegen den Abstieg spielt, sollte eigentlich jeder gewusst haben. Und jetzt steht man plötzlich da und sagt: 'Was ist da passiert?' Der VfL Bochum ist nicht wegen einer grossartigen Leistung drin geblieben, sondern nach der Ausschöpfung jeglicher Möglichkeiten, die diese Mannschaft und der Verein hatten, mit unglaublich viel Glück und "fussballerischer Dummheit" von Fortuna Düsseldorf. Dann verlassen viele Stammspieler den Verein. Da muss man mir mal erklären, wie diese Mannschaft besser werden soll. Was kann der neue Trainer da machen? Sämtliche Säulen der Mannschaft sind ihm genommen worden.

"Und dann geht es plötzlich den Bach runter."

Peter Neururer über die Lage beim VfL Bochum

Wo hat der VfL die Euphorie nach der emotionalen Rettung im Mai verloren? Warum ist das so schnell verpufft, warum wurde das nicht genutzt?

Einige Leute sind gar nicht mehr da. Und im Fussball ist es so, dass man schnell zwischen den Stimmungs-Extremen wechselt. Und das kann zu einer Belastung werden für Spieler, die diesen Verein und diese Situation nicht kennen. Die kommen, weil sie gesehen haben, was für eine Euphorie und was für eine Stimmung herrscht, und dann geht es plötzlich den Bach runter. Der Verein spricht immer von Kontinuität, aber der letzte Trainer, der langfristig arbeiten durfte, war mein Nachfolger, Gertjan Verbeek. Das war 2017. Ansonsten waren das immer nur Kurztrips. Es wird auf den wichtigen Positionen fortwährend gewechselt.

Dabei ist die Bundesliga-Existenz für den VfL ein grosser Erfolg, Druck gibt es ja eigentlich nicht. Doch warum ist von der oft propagierten Konstanz auf den entscheidenden Positionen nicht viel zu sehen?

Das liegt an der Tatsache, dass der eine oder andere Entscheider sich so in die Enge getrieben fühlt, weil er weiss, dass die eigene Existenz nur in der ersten Liga möglich ist. Und dann wird versucht, das mit Haut und Haaren zu verteidigen, was grundsätzlich richtig ist. Aber nur dann, wenn es um den Verein geht. Aber wenn man sieht, dass der VfL in der vergangenen Saison Thomas Letsch entlassen hat, obwohl man nicht einmal auf einem Abstiegsplatz stand, ist das die Antwort auf die Frage.

Welche Vorwürfe kann man Ex-Trainer Peter Zeidler machen?

Dass er nicht erkannt hat, dass mit der Mannschaft nicht viel mehr möglich ist. Es war klar, dass es mit dem Kader wieder Richtung Relegation geht. Vielleicht wird man, wenn alles perfekt läuft, 15. Mehr ist nicht drin. Vielleicht wurde dem Trainer gesagt, dass man immer noch die Möglichkeit hat, im Winter nachzurüsten. Aber dieses Nachrüsten in der Winterpause ist sowieso verdammt schwer.

Was muss sich die Mannschaft vorwerfen lassen?

Diese Mannschaft hat in fast jedem Spiel ein anderes Gesicht gehabt. Und das ist das Problem. Da stellen sich keine Automatismen ein. Die Selbstzweifel waren in allen Mannschaftsteilen zu sehen. Trotzdem hat auch sie ihren Anteil. Wenn jetzt die Einsicht da ist, dass jeder Einzelne nicht 100 Prozent gegeben hat, wenn sich die Mannschaft hinterfragt und wieder zur Einheit wird, dann haben sie die berechtigte Möglichkeit, das Ziel zu erreichen. Aber diese Einsicht muss schnell kommen.

Diesen Trainertyp empfiehlt Neururer für den VfL Bochum

Jetzt haben Markus Feldhoff und Murat Ural interimsweise übernommen. Was wäre die richtige Trainer-Lösung für den VfL?

Jemand, der nicht zwingend den Abstieg verhindern will, sondern diesen vernünftig moderiert. Die Mannschaft sortiert. Eine Mannschaft zusammenstellt, mit der man im nächsten Jahr sofort wieder aufsteigen kann. Wie Lucien Favre 2011 in Gladbach. Aus einer ähnlichen Konstellation heraus ist er damals zum Erfolgstrainer geworden und hat sogar sensationell den Klassenerhalt geschafft.

Was stimmt Sie noch optimistisch, dass es zu einer sportlichen Wende in Bochum kommen kann?

Es gibt glücklicherweise Mannschaften, die nicht wesentlich stärker sind. Von daher ist der Abstand auf Platz 15 noch nicht so gross. Und da der VfL sich in einer sportlich schlechten Phase eigentlich immer durch Zusammenhalt ausgezeichnet hat, habe ich die Hoffnung, dass durch die anstehenden Personalentscheidungen wieder so etwas entsteht.

Welchen Effekt haben Feldhoff und Ural im Hinblick auf das Bayern-Spiel?

Das sind ja keine neuen Trainer. Das Trainergespann könnte etwas bewirken, wenn der alte Trainer im menschlichen Bereich mit der Mannschaft nicht klargekommen wäre. Dann wäre das eine Befreiung für die Mannschaft. Dann können sich ungeahnte Möglichkeiten ergeben. Aber die Spieler müssen sich ja nicht neu unter Beweis stellen. Da kann nur ein wirklich neuer Trainer etwas bewirken. Dieser Effekt, der kommt nicht.

Ist die Chance gegen die Bayern nach der Pleite in Barcelona trotzdem eventuell grösser?

Wenn du am Mittwoch gegen Barcelona spielst, brauchst du in der Bundesliga einen absoluten Top-Gegner, um eine Spannungslage zu erzeugen, die du brauchst, um erfolgreich Fussball zu spielen. Da passieren im Unterbewusstsein der Spieler irgendwelche Dinge. Wenn die Bayern gegen Barca gewonnen hätten, dann wären sie konzentrierter. Aber wenn der VfL es schafft, den FC Bayern in die Defensivarbeit zu verwickeln, dann haben sie eine kleine Chance. Wenn, dann jetzt. Denn die Bochumer sind ja auch gefordert und haben im Grunde nichts zu verlieren.

"Ein unterirdisches gesamtheitliches Defensivverhalten."

Peter Neururer über die Leistung des FC Bayern in Barcelona

Wie sehen Sie bei den Bayern die Entwicklung unter Vincent Kompany?

Über die Qualität der Bayern müssen wir nicht sprechen. Aber die Mannschaft ruft sie nicht ab, weil ihr gesamtes mannschaftliches Denken offensiv ausgerichtet ist. In der Bundesliga reicht das allemal, um wieder Meister zu werden. Gegen Barca war das ein unterirdisches gesamtheitliches Defensivverhalten. Unterirdisch, weil die Zweikämpfe gar nicht angenommen wurden. Da braucht der Trainer wahrscheinlich ein bisschen länger und auch mehrere internationale Spiele.

Ist das ein taktisches Problem? Ein qualitatives? Ein Kopfproblem?

Das hat etwas mit der gesamten Denke zu tun, nicht mit der Qualität oder Aktionen einzelner Spieler. Die Mannschaft muss ihr gesamtes Potenzial überprüfen und dann gewissermassen umdenken, denn das gesamte mannschaftliche Denken in Bezug auf das Defensivverhalten ist nicht internationale Spitze. Dann bringen dir die ganzen Weltklassenspieler nichts.

Bald wieder eine Trainer-Diskussion?

Ist das 1:4 in Barcelona ein Ausrutscher oder ein Alarmzeichen?

Unter dem Strich ist es ein Alarmzeichen, dass sich da etwas ändern muss. Ich glaube aber nicht, dass das bei Bayern München zweimal passiert. Die werden daraus lernen. Für die Champions League müssen sie es auch.

Glauben Sie, dass es bei weiteren ausbleibenden Ergebnissen, vor allem international, wieder schnell zu einer Trainerdiskussion kommt? Oder lässt man Kompany jetzt tatsächlich mal in Ruhe arbeiten?

Das ist eine gute Frage. Erstens glaube ich nicht, dass es dauerhaft international auf höchster Ebene so bleiben wird. Wenn es sich wiederholen sollte, dann gibt es wieder Diskussionen. Im Augenblick macht Kompany vieles richtig. Aber klar: Wenn sie ausscheiden sollten, dann brennt der Baum richtig. Dann sollten sich wirklich alle hinterfragen. Doch auch dann ist es am Ende immer der Trainer.

Über den Gesprächspartner

  • Peter Neururer ist ein ehemaliger Bundesliga-Trainer, der unter anderem auch zweimal beim VfL Bochum (2001 bis 2005 und 2013 bis 2014) tätig war. Heute ist der 69-Jährige als Experte tätig.
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