Die Leverkusener haben es geschafft, die Bayern nach zwölf Jahren endlich vom Thron zu stossen. Stellt sich nur die Frage, ob Bayers Meisterschaft eine Ausnahme bleibt oder die Bundesliga tatsächlich wieder spannend ist.
In diesen Tagen ist in Deutschland pädagogische Grundlagenarbeit gefragt. Junge Menschen vom Kindergartenalter bis zur 6. Klasse müssen von ihren Eltern und Lehrkräften behutsam an eine neue Lebensrealität herangeführt werden: Ja, es kann auch andere deutsche Meister geben als den FC Bayern München. Und nein, das ist ausnahmsweise mal kein Vorzeichen eines drohenden gesellschaftlichen Zusammenbruchs.
Im Gegenteil: Dass
Zwölf lange Jahre erstickten die Bayern jeglichen Meisterkampf mit ihrem langweilig perfekten Streberfussball, war ein Sieg gegen München vor allem Borussia Mönchengladbach, Eintracht Frankfurt und den glücklichen Gegnern, die erst nach der Meisterfeier ihr Rückspiel hatten, vorbehalten. Als die Bayern 2012 das letzte Mal nicht Meister wurden, war die AfD noch der feuchte Traum eines Wirtschaftsprofessors, Facebook eine ernstzunehmende Social-Media-Plattform unter Jugendlichen und der Trainer des SC Freiburg hiess... ach, lassen wir das.
Davor war eine Saison ohne Bayern-Meisterschaft aber tatsächlich etwas ganz normales. Noch in den 2000er-Jahren gehörte es quasi zum natürlichen Kreislauf der Bundesliga, dass die Münchner jede zweite oder dritte Saison einem unerwarteten Titelaspiranten den Vortritt liessen, der im Sommer zuvor noch im UI-Cup am albanischen Tabellenvierten gescheitert war und auch spätestens nach einem Jahr wieder dort landete. Die Liga war so spannend, Überraschungsmeister waren eigentlich keine grosse Überraschung.
Leverkusen hatte keiner auf dem Zettel
Leverkusens Titelgewinn weckt schöne Erinnerungen an diese Zeit. Denn mit Bayer hat die Liga nicht nur einen neuen Meister, sondern einen, den wohl nicht mal die angestrengtesten Fussball-Hipster vor der Saison als Titelkandidaten auserkoren hätten. Dass Bayer Leverkusen für immer Vizekusen bleiben würde, war schliesslich eine unverrückbare Tatsache. Und selbst in der Bayer-Chefetage guckt man zur Stunde wohl immer noch nervös, ob sich im Terminkalender nicht doch noch irgendwo die SpVgg Unterhaching versteckt. Keine Angst, Bayer, Lorenz-Günther Köstner kann euch nicht mehr wehtun!
Weh tun muss es hingegen bei den Dortmundern, die all die Jahre mal mehr, mal weniger kläglich daran scheiterten, aus dem "Klassiker" mehr zu machen als einen Marketing-Gag und jetzt zugucken müssen, wie jemand anderes ihren Platz einnimmt. Es sich gemütlich zu machen im Niemandsland zwischen den finanziell enteilten Bayern und dem Rest der Liga (Trost-Champions-League-Plätze gibt es dort ja mittlerweile genug) ist dann eben doch nicht die richtige Strategie - auch das ist ein gutes Signal für die Rückkehr des Wettbewerbs in die Ligaspitze.
Dann ist jetzt also wieder alles gut in Fussball-Deutschland? Ein funktionierender nationaler Wettbewerb kombiniert mit internationaler Wettbewerbsfähigkeit scheint plötzlich wieder im Rahmen des Möglichen zu sein. Ganz ohne das DFB-Pokal-Zweitrundenspiel des FC Augsburg nach Riad verlegen zu müssen, um danach die Markenrechte an der 50+1-Regel gewinnbringend an eine Investmentfirma zu verkaufen.
Wer Bayern schlägt, muss einmaliges vollbringen
Ganz so einfach und schnell geht es dann aber doch nicht. Denn auch, wenn die Bayern in dieser Saison nicht auf Platz eins stehen, spiegelt sich in der Tabelle trotzdem wider, wie tief die Gräben zwischen Gross und Klein weiterhin sind. Und die aktuell gelebte Selbstzerstörung des FC Bayern trübt etwa die Erinnerung daran, dass der noch amtierende Meister vor der Winterpause fast ebenso wenig zu schlagen war wie die Leverkusener - noch zu Hitzfelds Zeiten wäre die Hinrunde 2023/24 als beste der Bayern-Geschichte gefeiert worden.
Die Frage bleibt: Hätten die Bayern sich auch so sehr aufgegeben, wenn Bayer eine Schwächephase gehabt hätte, wie jede normale Mannschaft? Stattdessen liessen die Leverkusener bis zum Titelgewinn eben nicht locker, erreichten mit ihrer noch immer niederlagenfreien Saison Einmaliges und hielten damit die These aufrecht: Wer die Bayern schlagen will, dem muss - Stand jetzt - auch weiterhin Aussergewöhnliches gelingen.
VfB Stuttgart ist weinender Dritter
Der wahrscheinlich gar nicht so unglückliche Verlierer dieser Entwicklung ist deshalb auch das zweite Überraschungsteam der Saison, der VfB Stuttgart. Die jungen Wilden von Sebastian Hoeness sind gemessen an ihrer Punktzahl nach dem 29. Spieltag nicht nur besser als die jungen Wilden, mit denen Felix Magath anno 2003 die Liga aufwirbelte, sondern auch als alle drei Meistermannschaften in der Bundesliga-Geschichte des VfB. Es könnte also gut sein, dass die nach Punkten beste Stuttgarter Mannschaft aller Zeiten am Ende "nur" auf Platz drei landet - wenn sie nicht noch weiter zu überraschen weiss.
Und vielleicht wäre sie, die Vizemeisterschaft des VfB Stuttgart, der tatsächliche Beweis für die wiedererlangte Schlagbarkeit der Bayern. Und ein Zeichen für die anderen Klubs der Liga, dass sie dort, wo sie gerade sind, nicht bleiben müssen. Vielleicht kommt der nächste deutsche Meister, der nicht FC Bayern heisst, dann ja schon vor 2036? Bis dahin haben Eltern und Lehrkräfte die Zeit, ihre Kinder an den nächsten Schockmoment heranzuführen: Wir wissen ehrlich gesagt auch nicht, wer nächstes Jahr Meister wird.
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