- Der Höhenflug des VfB Stuttgart ist eng verknüpft mit Sasa Kalajdzic.
- Der Österreicher ist ein besonderer Spielertyp, der aus einem Abstiegskandidaten einen Anwärter auf die internationalen Plätze macht.
- Selbst seinen prominenten Vorgänger macht er längst vergessen.
An einem Tag im Juli 2019 schien die Karriere von Sasa Kalajdzic schon beendet, noch ehe sie so richtig begonnen hatte.
Bei einem Testspiel im Trainingslager in Schruns blieb Kalajdzic im Rasen hängen, die Diagnose wurde als das gestellt, was Mediziner eine "unhappy triad", eine "unglückliche Dreiheit", nennen: Den Riss des vorderen Kreuzbands, des Innenbands und des Innenmeniskus. Kaljdzic zertrümmerte sich zwar den Aussenmeniskus und nicht den inneren Teil, am Totalschaden im Knie änderte das aber nichts.
Das war wenige Tage nach Kalajdzic‘ 22. Geburtstag und wenige Wochen, nachdem er beim VfB Stuttgart angekommen war. Der VfB war ein frisch gebackener Zweitligist, nach einer Horror-Saison abgestiegen und mal wieder am Tiefpunkt angelangt. Kalajdzic war ein recht unbekannter Mittelstürmer aus Wien, der sich in Österreich in der zweiten Liga bei Admira Wacker verdingte und der nie ein Nachwuchsleistungszentrum von innen gesehen hat. Kalajdzic spielte mit 19 noch beim SV Rasenspieler Donaufeld, einem Klub aus der Wiener Stadtliga.
Karrieren wie diese gibt es fast gar nicht mehr. Junge Spieler werden heute fast ausnahmslos in Nachwuchsakademien herangezüchtet, streng nach Karriereplan und viel zu oft auch nach Schema F. Kalajdzic ist eine der wenigen Ausnahmen und für viele auch ein Beispiel dafür, dass noch einen zweiten Bildungsweg gibt - und dass auch dieser bis ganz nach oben führen kann.
Den Bobic-Rekord einkassiert
Sasa Kalajdzic ist nicht nur einer der Aufsteiger der Saison beim VfB Stuttgart, sondern in der gesamten Bundesliga. 13 Tore und vier Assists sind in seiner ersten Bundesliga-Saison überhaupt ein sensationelles Zwischenergebnis. In den vergangenen sieben Partien hat Kalajdzic mindestens einmal getroffen. Damit hat er den 25 Jahre alten Klubrekord von Fredi Bobic kassiert und ist noch vor Senkrechtstarter Silas Wamangituka (elf Tore, fünf Assists) Stuttgarts gefährlichster Angreifer.
Vor der Saison galt der VfB als einer der ganz heissen Abstiegskandidaten. Wegen der Coronakrise und den damit eingebrochenen Einnahmen blieb kaum Geld für teure Verstärkungen. In der Zweitliga-Saison, die die Stuttgarter mit Ach und Krach als Zweiter beendeten und den Aufstieg auf den letzten Drücker erst schafften, war die Offensive ein grosses Problem - gegen Mannschaften wie Osnabrück, Kiel, Karlsruhe, Wehen-Wiesbaden oder Sandhausen setzte es Niederlagen. Wie sollte das dann erst gegen die Top-Teams des Landes werden?
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Trainer Pellegrino Matarazzo und Sportchef Sven Mislintat verzichteten auf Verstärkungen für die Offensive und gingen mit dem Angriff aus der Zweitliga-Saison in die Spielzeit. Dann verletzte sich der beste Angreifer Nicolas Gonzalez und plötzlich lag alle Last des Toreschiessens auf den schmalen Schultern von Sasa Kalajdzic. Aber der lieferte zuverlässig ab. In den ersten drei Spielen traf der Österreicher jeweils, dann folgte eine kleine Durststrecke - die aus VfB-Sicht aber Silas und der genesene Gonzalez auffingen. Und nun der grosse Lauf mit acht Toren aus sieben Spielen.
Kalajdzic Körpergrösse hat wohl die meisten Beobachter von dem abgelenkt, was wirklich in dem 23-Jährigen steckt. Bei zwei Metern Länge ist das Kopfballspiel fast zwangsläufig eine Stärke, aber eben nicht die einzige. Kalajdzic hat einen sehr feinen rechten Fuss und auch eine gewisse Kälte vor dem gegnerischen Tor. Er trifft mit rechts und links oder per Kopf, als wäre es die normalste Sache der Welt.
Tiefes Fussballverständnis und Witz
Die wohl grösste Stärke dürfte aber jene sein, die nur den wenigsten auf den ersten Blick auffällt: Kalajdzic hat ein sehr tiefes Fussballverständnis und -wissen. Das sieht man an vielen kleinen Situationen, wenn er einfach instinktiv den richtigen Laufweg wählt oder die richtige Drehung - wo andere Angreifer ziemlich sicher anders gehandelt hätten. Das kann man nicht lernen, man hat es oder man hat es eben nicht. Gegen Hoffenheim gab es so eine Szene: Da wurde Kalajdzic mit dem Rücken zum Tor und zwei Gegenspielern an seinen Hacken angespielt. Der Druck von hinten war gross, ein Klatschenlassen auf Passgeber Borna Sosa die logische Lösungen.
Kalajdzic nahm den Ball aber mit dem ersten Kontakt und mit dem Aussenrist nach vorne mit, durch beide Gegenspieler hindurch. Fast wäre er damit alleine vor Hoffenheims Keeper Oliver Baumann aufgetaucht, die Ballmitnahme war aber etwas unsauber und die Chance damit dahin. Trotzdem verändert er mit seinem Spiel auch grundlegend das Spiel seiner Mannschaft, auch im Vergleich zur Vorsaison.
Kalajdzic ist ein mitspielender Mittelstürmer, der sich gerne auch mal auf die Zehnerposition fallen lässt, um einen Angriff weiterzuentwickeln. Dabei kann er Bälle nicht nur verlängern oder festmachen, sondern mit einem Kontakt auch sofort Dynamik erzeugen. Vor ein paar Wochen hechtete Gonzalez in eine Flanke von Borna Sosa, es war der Ausgleichstreffer gegen Gladbach. Das Tor kam nur zustande, weil Kalajdzic vorher einen schwer zu verarbeitenden Pass akkurat verwerten konnte: Ein hüfthohes, mit Zug auf den Körper platziertes Zuspiel von Wataru Endo liess Kalajdzic scheinbar mühelos für die Verlagerung auf Sosa tropfen.
Guter Kicker, herrlich normal
Es sind diese kleinen Dinge, die eher selten auffallen und doch so wichtig sind. Vergangene Saison stand an Kalajdzic‘ Stelle noch Mario Gomez. Einst einer der besten Strafraumstürmer des Landes, als Kombinationsspieler aber keine gute Wahl. Deshalb versandeten auch viele Stuttgarter Angriffe nach dem Zuspiel in die Spitze. Nun kann Kalajdzic damit fast immer etwas anfangen und hält den Angriff im Fluss.
Und als wäre das alles nicht genug, ist der Österreicher auch noch ein erfrischend offenherziger Typ. Kalajdzic redet mit seinem Schmäh so herrlich normal, dass seine Worte unter den ganzen Hülsen seiner Kollegen sofort auffallen. Der VfB Stuttgart hat mit dem damals durchaus auch kritisch gesehenen Transfer von Sasa Kalajdzic offenbar ziemlich vieles richtig gemacht. Und er hat Geduld und Vertrauen bewiesen in seine 2,5-Millionen-Euro-Investition.
Das Ergebnis ist der Durchbruch eines Spielers, der hinter den Top Five Robert Lewandowski, Erling Haaland, Andre Silva, Wout Weghorst und Andrej Kramaric hineingestossen ist in die Liste der besten Angreifer der Liga. Und das hätten wohl selbst die kühnsten Optimisten nicht für möglich gehalten.
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