Marcel Reif war der beste Fussball-Kommentator des Landes, er hat die Sportberichterstattung auf seine ganz eigene Weise in eine neue Zeit geführt. Aber er war und ist auch mehr als "nur" eine Ikone seiner Zunft. Daran sei an seinem 75. Geburtstag noch einmal erinnert.
"Noch nie hätte ein Tor einem Spiel so gut getan wie heute." Der Satz hat sich eingebrannt ins kollektive Gedächtnis aller Fussball-Fans etwas älteren Jahrgangs.
Beim Champions-League-Spiel zwischen Real Madrid und Borussia Dortmund stürzte zwei Minuten vor dem Anpfiff eines der beiden Tore im Estadio Santiago Bernabeu ein. Madrider Fans hatten in froher Erwartung der Halbfinale-Partie den Schutzzaun hinter dem Tor bestiegen und daran zu heftig und beharrlich gerüttelt. Der Zaun stürzte in Richtung Tribüne und riss das daran befestigte Tor einfach mit.
Reif war als Kommentator für den Sender RTL im Einsatz, als Moderator der Sendung stand ihm
Diesen "Einmal im Leben"-Moment nutzten Reif und Jauch und legten eine der besten Live-Schalten in der Geschichte der Sportberichterstattung hin. 76 Minuten dauerte die Verzögerung durch den Pfostenbruch. Eine sehr lange Zeit, um dabei "Strecke zu machen", sie also irgendwie zu überbrücken. Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten aber stürmten Reif und Jauch zur Bestform.
"Dann entwickelte sich eine Realsatire, und dann haben wir uns in Irrsinn gequasselt", erinnerte sich Marcel Reif später. Es fällt sein bis dato berühmtester Satz, Jauch setzt noch einen drauf. "Für alle die, die nicht rechtzeitig eingeschaltet haben, (...) das erste Tor ist schon gefallen!" Reif und Jauch erhielten für ihr Improvisationstheater später den Bayerischen Fernsehpreis und waren sogar für den Grimme-Preis nominiert.
Fast 13 Millionen Zuschauer lauschten dem Wortduell der beiden - das eigentliche Spiel sahen im Anschluss nur noch halb so viele Menschen.
Fachkenntnis und rhetorisches Geschick
In den 1990er Jahren, dem Jahrzehnt des rasanten Aufstiegs des Privatfernsehens, war das einer der letzten TV-Höhepunkte und Marcel Reif damals auch an seinem vermeintlichen Höhepunkt angelangt. Die grossen Spiele der Königsklasse waren ihm vorbehalten, bei Welt- und Europameisterschaften hatte er bereits für das ZDF kommentiert. Jetzt, da auch die nationalen und internationalen Spiele der Bundesligaklubs live in die Wohnzimmer der Republik ausgestrahlt wurden, erreichten Kommentatoren wie Reif schon durch ihre Dauerpräsenz einen ganz anderen Status. Zum regelrechten Kult wurden dabei aber nur sehr wenige.
Reif hatte das Glück, auf der Höhe seines Schaffens in der richtigen Zeit Fussballspiele kommentieren zu dürfen. Mit RTL und Sat1, vor allen Dingen aber mit Premiere, dem Vorläufer des Senders Sky, wurde Live-Fussball im TV massentauglich. Und Reif als begnadeter Kommentator zur wichtigsten Figur derer, die das Spiel ebenso kompetent wie unterhaltsam präsentieren konnten.
Dabei kam dem im polnischen Walbrzych geborenen Reif seine fundierte Ausbildung und auch sein sportlicher Werdegang zu Gute. Die journalistische Ausbildung begann im Politik-Ressort beim ZDF, erst später und als Eishockey-Experte wechselte Reif dann in den Sportbereich. Als Kind und Jugendlicher war er Spieler beim 1. FC Kaiserslautern, den Sprung in den Profifussball schaffte Reif dann aber nicht auf dem Rasen - sondern am Mikrofon.
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Zwischen Bayern-Fan und Bayern-Hasser
"Rickeeeen, lupfen jetzt!", machte ihn schon ein Jahr vor dem Torbruch von Madrid legendär. Wie Reif damals dem eben erst eingewechselten Dortmunder Lars Ricken im Champions-League-Finale gegen Juventus quasi von der Tribüne aus die Anweisung gab, den Ball aus 40 Metern mit einem Hieb ins Tor zu schlenzen, sensationell.
Es war bei ihm immer die Kombination aus rhetorischer Begabung und dem Verständnis für das Spiel als solches, die Reif von seinen Kollegen abhob. Niemand entwickelte ein derart feines Gespür für die Situation, keiner konnte es besser in Worte packen als er. Bisweilen ging dabei auch etwas schief, aber das gehört eben auch zum Schicksal eines Kommentators, der im Live-Moment lebt.
Ebenso wie die Vorurteile und Anschuldigungen aus eigentlich allen Fanlagern: Weil Reif nun mal die grossen Spiele bekam und er dabei oft genug der FC Bayern kommentierte - wie unter anderem in den Königklassen-Finals 1999 ("…da isses passiert. Solskjaer!") und 2001 ("Kaaaahn, die Bayern!") - hielt sich hartnäckig die Geschichte von Reif, dem Bayern-Sympathisanten. Während alle Bayern-Fans wiederum jede kritische Bemerkung gegen ihren Klub zum Anlass nahmen, Reif als Bayern-Hasser zu titulieren.
Kaiser Franz: "Da habt’s ja noch so einen Zauberer"
Sein besonderes Verhältnis zu
Später wurden der Kaiser und der Zauberer nicht nur Kollegen bei RTL und Premiere, sondern auch Freunde. Und Reif irgendwann so wie der "Kaiser" zur Ikone seines Berufsstands.
Immer adrett gekleidet und mit dem Sinn für den grossen verbalen Auftritt wurde Reif zur Stimme des Fussballs in den Nuller- und Zehnerjahren. Bis er nach fast fünf Jahrzehnten dann seinen Vertrag bei Sky nicht mehr verlängerte - oder verlängert bekam. Seitdem ist es ruhiger geworden um Marcel Reif, der sich noch mit einer Fussball-Show bei der "Bild"-Redaktion verdingt und ab und an in einer Talkshow auftaucht.
Was wiederum einigermassen schade ist, weil man diesem Mann immer gerne zugehört hat und er in die Nischen verschwunden ist. Und weil er durchaus noch etwas mehr zu sagen hätte als seine Meinung zu einem handelsüblichen Bundesliga-Spiel.
Bewegende Rede im Bundestag: "Sei ein Mensch!"
Reifs Vater Leon, ein polnischer Jude, war bereits auf dem Weg in eines der Vernichtungslager der Nazis, als er vom Unternehmer und späteren Krupp-Chef Berthold Beitz gerettet wurde. Leon Reif überlebte den Holocaust – anders als der Grossteil seiner Familie.
Im Januar durfte Reif seine wohl wichtigste Rede halten, bei der Feierstunde im Deutschen Bundestag zum Gedenken an die Opfer der NS-Zeit und sechs Millionen ermordeter Juden. "'Nie wieder!' ist mitnichten ein Appell. 'Nie wieder!' kann nur sein, darf nur sein, 'Nie wieder!' muss sein: gelebte, unverrückbare Wirklichkeit!".
Und dann schloss Reif mit den tatsächlich wichtigsten und bewegendsten Sätzen seines Lebens. "…und wenn Sie es mir erlauben und wenn Sie mögen - gerade heute aus diesem Anlass und gerade hier in diesem höchsten deutschen Hause -, dann lass' ich Ihnen den kleinen und doch so grossartigen, wundervollen Satz, den mein Vater, Leon Reif, gesagt hat, dann lass' ich Ihnen diesen Satz hier: 'Sei a Mensch!' - 'Sei ein Mensch!'"
Verwendete Quellen
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