Am vergangenen Wochenende wurde in der Fussball-Bundesliga nicht nur einmal mehr über die Video-Assistenten diskutiert, sondern auch über die Auslegung der Abseitsregel in einem speziellen Teilbereich.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Alex Feuerherdt sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

In der Partie zwischen RB Leipzig und dem 1. FC Union Berlin (1:2) verweigerte Schiedsrichter Daniel Schlager in der 80. Minute dem vermeintlichen Leipziger Ausgleichstor von Yussuf Poulsen zum 2:2 nach einem On-Field-Review die Anerkennung, weil er die vorangegangene Abseitsstellung von Timo Werner als strafbar bewertete.

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Der Angreifer hatte den Ball aus einer missglückten Abwehraktion des Berliners Aissa Laidouni erhalten, für den Referee war diese Aktion jedoch kein kontrolliertes Spielen des Balles. Deshalb erkannte er auf Abseits.

In der vergangenen Saison hätte dieses Tor noch gezählt. Denn da hob ein absichtliches Spielen des Balles durch einen Abwehrspieler nach dem Abspiel eines Angreifers – der prägnante englische Terminus "deliberate play" ist auch in Deutschland etabliert – die Abseitsstellung eines Gegners auf.

Ob dieser Verteidiger den Ball auf kontrollierte Art und Weise gespielt hatte, war ohne Belang. Es ging nur darum, dass er ihn überhaupt spielen wollte und erreicht hatte, wie geringfügig und mit welchem anschliessenden (Miss-)Erfolg auch immer.

Diese Regelauslegung geriet in die Kritik, weil sie in einigen wenigen Spielen dazu führte, dass Tore – regeltechnisch zu Recht – zählten, bei denen kaum jemand verstehen konnte, warum das Abseits aufgehoben war. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist der Siegtreffer von Kylian Mbappé im Nations-League-Finale zwischen Frankreich und Spanien im Oktober 2021.

Mbappé war in Strafraumnähe beim Zuspiel eines Mitspielers deutlich im Abseits. Doch weil ein spanischer Verteidiger beim unkontrollierten Rettungsversuch den Ball leicht berührte, ohne dass dieser die Richtung änderte, war die Abseitsstellung aufgehoben, und das folgende Tor zählte.

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Unnötige Zirkusnummer?

Vor dieser Saison wurde zwar nicht der Regeltext selbst, aber die Regelauslegung, also die Interpretation des "deliberate play" durch das International Football Association Board (Ifab) und die Fifa geändert. "Deliberate" schliesst seitdem auch das Kriterium der Kontrolle des Abwehrspielers über Ball und Körper ein, das vorher keine Rolle gespielt hatte.

Genau das ist der Streitpunkt bei der Bewertung der Abwehraktion von Laidouni. Der Berliner lief nach einem langen, hohen Ball der Leipziger in der Mitte der eigenen Hälfte erst einige Schritte rückwärts und hatte den Ball dabei im Blick. Er spielte ihn schliesslich etwas unorthodox mit der Ferse, indem er das rechte Bein nach hinten streckte, als der Ball über ihn hinwegflog.

Dabei traf er jedoch den Ball nicht richtig, der dadurch zum im Abseits befindlichen Timo Werner kam. Wenige Sekunden später erzielte Poulsen das Tor, und das rief den Video-Assistenten Tobias Reichel auf den Plan. Schiedsrichter Schlager verweilte nicht lange am Monitor, bevor er entschied: Der Treffer wird annulliert.

"Mit der Hacke kann man den Ball nicht so kontrolliert spielen", sagte er im Interview. Laidouni habe den Ball zwar zunächst gesehen, "aber am Ende, wo er den Ball mit der Hacke spielt, macht er es in einer unkontrollierten Art, weil er den Ball eben nicht sieht". Das war für den Unparteiischen "das entscheidende Kriterium".

Schlager sah in der Art und Weise, wie Laidouni agierte, auch keine unnötige Zirkusnummer, die schiefging: "Er kann den Ball in dem Moment gar nicht anders spielen als mit der Hacke. Er hat nicht die Zeit gehabt, sich umzudrehen und zu orientieren."

Damit war für den Referee ein wesentliches "Deliberate play"-Kriterium nicht erfüllt, nämlich jenes, in dem es heisst: "Der Spieler hatte Zeit, seine Körperbewegungen zu koordinieren (d. h. keine instinktiven Streck-, Sprung- oder sonstigen Bewegungen mit begrenzter Ballberührung/-kontrolle)."

Rose und Gräfe widersprechen

Das Argument, dass Laidouni den Ball in dieser Situation nicht habe kontrolliert spielen können, liess der Leipziger Trainer Marco Rose nicht gelten. "Die Jungs können mit der Hacke jonglieren, ohne dass sie den Ball sehen, und zwar zwanzigmal, wenn sie wollen", sagte er.

"Mir kann keiner erzählen, dass dieser Spieler den Ball nicht mit der Hacke kontrolliert, bewusst spielen wollte", fuhr er fort. "Er will den Ball kontrolliert mit der Hacke spielen. Punkt. Er ist nicht angeschossen worden oder irgendwas." Das heisst: Nach Roses Dafürhalten war die Möglichkeit der Kontrolle gegeben, sie missglückte lediglich, weil der Spieler einen technischen Fehler machte.

Ähnlich sieht es der ehemalige Fifa-Referee Manuel Gräfe. Er schrieb auf Twitter, Laidouni habe den Ball gesehen, er "hätte sich anders zum Ball positionieren und ihn sauber spielen können, duckt sich aber und entschied sich für diese Variante und scheiterte". Der Ball sei lange genug unterwegs und frei sichtbar gewesen.

Tatsächlich ist nach der neuen Regelauslegung von Ifab und Fifa ein "deliberate play" gegeben, wenn ein Spieler die Möglichkeit hätte, den Ball kontrolliert zu spielen – oder ihn anzunehmen respektive wegzuschlagen –, es ihm aber misslingt. Für die Schiedsrichter ist es eine undankbare und teilweise schwierige Aufgabe, das zu bewerten.

Dass Aissa Laidouni den Ball unkontrolliert gespielt hat, ist offensichtlich. Aber lag das daran, dass er die Kontrolle einfach vermasselt hat, wie Rose und Gräfe meinen? Oder daran, dass er in der Rückwärtsbewegung keine wirkliche Kontrolle über den hoch auf ihn zukommenden und schliesslich über ihn fliegenden Ball hatte, wie Schlager urteilt?

Die neue Regelauslegung ist schwieriger für die Referees

Die fussballerische und die regeltechnische Interpretation weichen hier voneinander ab. Laidouni war in der betreffenden Situation nicht sonderlich gut positioniert und hatte sich beim Rückwärtslaufen ausserdem verschätzt.

Dadurch konnte er den hohen Ball nicht mehr mit dem Kopf erreichen, was erst zum gewagten – und am Ende tatsächlich instinktiven – Versuch führte, ihn hinter seinem Rücken mit der Ferse zu spielen. Das war situativ wohl in der Tat die einzige Möglichkeit, den Ball zu erreichen.

Hier kontrolliert zu agieren, ist allerdings eine echte Herausforderung, zumal in der Rückwärtsbewegung, die zusätzliche Anforderungen an die Balance stellt.

Hat sich Laidouni durch schwaches Abwehrverhalten selbst in die Bredouille gebracht? Das kann gut sein – aber es ist für den Unparteiischen schwierig zu bewerten. Was er dagegen eindeutig sehen konnte, war, dass ein Spieler nicht mehr mit dem Kopf an einen hohen Ball kam und es dann mit Akrobatik versuchte.

Das ging daneben, und es ist nachvollziehbar, dass Daniel Schlagers Urteil lautete: Kein "deliberate play", weil der Ball nicht in einer kontrollierten Art und Weise gespielt wurde und dabei kein eindeutiger technischer Fehler des Spielers vorlag.

Dieselbe Situation wäre nach der alten Regelauslegung wesentlich leichter zu bewerten gewesen. Und für die Unparteiischen ist es prinzipiell schwieriger, wenn sie nun neben der Absicht ein weiteres Kriterium – nämlich das der Kontrolle – in ihr Urteil einbeziehen müssen. Die neue Auslegung hat zudem lediglich den Graubereich verschoben. Mit ihr gibt es zwar keine Tore wie das von Mbappé mehr, aber dafür bringt sie andere Streit- und Grenzfälle hervor.

Daniel Schlager kann davon übrigens ein Lied singen: Er hatte bereits am 14. Spieltag in der Partie zwischen dem VfL Bochum und Borussia Mönchengladbach (2:1) eine ähnlich knifflige und hitzig diskutierte "Deliberate play"-Entscheidung zu treffen.

Alex Feuerherdt lebt in Köln und ist dort seit vielen Jahren verantwortlich für die Aus- und Fortbildung der Unparteiischen. Ausserdem wird der 52-Jährige als Schiedsrichter-Beobachter in Spielklassen des DFB eingesetzt und arbeitet für den Verband auch als Schiedsrichter-Coach.
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