- Nach dem Topspiel zwischen Dortmund und Bayern ist der Unparteiische einmal mehr im Gespräch.
- Ein nicht gegebener Feldverweis für Jude Bellingham steht dabei im Mittelpunkt der Diskussion.
- Schiedsrichter Deniz Aytekin zeigt Verständnis für seine Kritiker.
Wie viel nach einem Spiel über den Schiedsrichter debattiert wird, hängt naturgemäss vor allem davon ab, ob dieser aus der Sicht der beteiligten Mannschaften einen klaren Einfluss auf den Verlauf und den Ausgang der betreffenden Partie genommen hat.
In den Spielen zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern München war es in den vergangenen Jahren immer wieder der BVB, der sich nach einer Niederlage über Entscheidungen der Unparteiischen beschwerte. So beispielsweise in der vergangenen Saison, als die Referees Felix Zwayer und Daniel Siebert dafür kritisiert wurden, den Schwarz-Gelben im Hin- und im Rückspiel jeweils einen Strafstoss versagt zu haben.
Diesmal waren es aber die Bayern, die am Samstagabend nach Anthony Modestes Ausgleichstor zum 2:2 in allerletzter Sekunde über eine Situation kurz vor der Halbzeitpause reden wollten, in der
Wo Aytekin seinen Ermessensspielraum sah
Nicht nur in den Augen des Münchner Trainers
Aytekin selbst erklärte ausführlich, warum er auf die Hinausstellung verzichtet hatte. Im Interview mit dem Sender Sky sagte er, die Verwarnung gegen Bellingham nach 13 Minuten sei in der hektischen Anfangsphase erfolgt, nachdem mit
Die Sanktion sollte vor allem zur Beruhigung der Partie dienen und sei eine Kann-, aber kein Muss-Entscheidung gewesen. Mit dieser Vorgeschichte habe ihm dann kurz vor dem Halbzeitpfiff "die letzte Überzeugung gefehlt", Gelb-Rot zu zeigen und damit entscheidend ins Spiel einzugreifen.
Einen Ermessensspielraum sah Aytekin dadurch gegeben, dass Davies sich Bellingham von hinten und mit leicht gesenktem Kopf genähert habe. Soll heissen: Der Dortmunder konnte den Gegner nicht sehen und musste nicht damit rechnen, dass er ihn am Kopf treffen würde.
"Isoliert betrachtet ist es eine Gelbe Karte"
In der Sendung "Doppelpass" erklärte der Unparteiische am Sonntag: "Wenn man diese Szene ganz isoliert betrachtet und ohne Emotionen, dann ist es eine Gelbe Karte. Aber von uns Schiedsrichtern wird ja auch immer eine gewisse Empathie und ein Gefühl für die Situation erwartet."
Bellingham habe Davies nicht absichtlich getroffen, "und dann bist du als Schiedsrichter geneigt zu überlegen: Habe ich noch einen Restspielraum, um ihn zu nutzen?" Diesen kleinen Spielraum habe es gegeben, so der Referee, aber er verstehe auch jeden Bayern-Fan, der sage, das sei eine Gelbe Karte.
Was Aytekin damit ansprach, war das Spannungsfeld, in dem sich das Regelwerk und dessen Auslegung, der Spielkontext sowie die generelle Spielführung des Schiedsrichters und dessen taktischer Umgang mit Ermessensspielräumen befinden. Eine Spielleitung ist mehr als die Summe der einzelnen Entscheidungen, sondern sie muss sich auch zu einem grossen Ganzen zusammenfügen.
Auch ein Unparteiischer hat einen Matchplan, vor allem in einem grossen Spiel wie diesem, dessen Bedeutung durch die öffentliche Aufmerksamkeit wächst – und das vor allem in der jüngeren Vergangenheit seine eigenen Geschichten geschrieben hat, in denen auch den Referees ungewollt eine tragende Rolle zukam.
Warum Aytekin seine Linie änderte
Mit Deniz Aytekin pfiff dieses besondere Aufeinandertreffen deshalb einer der zweifellos besten, populärsten und erfahrensten deutschen Unparteiischen. Aytekins grosse Stärke liegt in seiner Persönlichkeit, er löst Konflikte gerne mit Kommunikation statt mit Karten.
Zudem ist er ein Spielleiter, der nicht bloss technisch entscheidet, sondern sein Ermessen, wenn es sich regeltechnisch begründen lässt, immer auch danach ausrichtet, was das Spiel braucht. In Dortmund zeigte Aytekin die erste Gelbe Karte allerdings schon nach rund anderthalb Minuten. Nach knapp einer Viertelstunde waren schon drei Akteure verwarnt.
Es war dabei offensichtlich, dass die dritte Gelbe Karte, nämlich die für Bellingham, eher aus der schiedsrichtertaktischen Erwägung gezeigt wurde, bei den persönlichen Strafen nach zwei Verwarnungen gegen Bayern-Spieler die erste einigermassen passende Gelegenheit zu nutzen, um für eine Balance zu sorgen.
Doch Bellingham hatte im Duell mit Jamal Musiala vor allem den Ball gespielt und Musialas Sturz sah übler aus, als es das Einsteigen des BVB-Profis war. Die Balance hatte sich Aytekin mit einem zu strengen Massstab erkauft, der die Gefahr einer Kartenflut barg.
Wo Nagelsmann irrt
Der Unparteiische rückte dann auch davon ab, ansonsten hätte er Leon Goretzka nach 22 Minuten für dessen rustikales Foulspiel an Niklas Süle ebenfalls verwarnen müssen. Und schliesslich profitierte auch Bellingham von Aytekins nunmehr grosszügigerer Linie bei den persönlichen Strafen.
Regeltechnisch betrachtet war der Ermessensspielraum für den Referee nach Bellinghams Foul an Davies allerdings tatsächlich minimal. Julian Nagelsmann lag zwar daneben, als er sagte, bei der Regelschulung vor der Saison sei vermittelt worden, dass jeder Fusstreffer im Gesicht eines Gegners zu einem Platzverweis führen werde.
Vielmehr wurde den Bundesligisten anhand von zwei Europapokal-Szenen aus der vergangenen Saison der Unterschied verdeutlicht, wann ein solcher Treffer einen Feldverweis nach sich zieht und wann nur eine Verwarnung. Rot gibt es zum Beispiel, wenn der Fusstreffer am Kopf frontal mit der offenen Sohle erfolgt. Nur zu Gelb führt hingegen ein Einsatz, bei dem der Gegner nicht im Blickfeld war und es zu einem Treffer mit dem Spann kommt.
Aber gemessen an diesen Szenen hatte der Bayern-Coach zumindest dahingehend recht, dass eine persönliche Strafe angemessen gewesen wäre.
Spieldienlich, aber regeltechnisch nur schwer zu rechtfertigen
Gleichzeitig gab es selbst bei den Bayern eine Stimme, die Aytekins Entscheidung, Bellinghams Arbeitstag nicht vorzeitig zu beenden, nachvollziehen konnte: "Wenn ich ehrlich bin, bin ich ein bisschen auch beim Schiedsrichter und habe Verständnis, dass er das Stadion nicht endgültig zum Kochen bringen wollte", sagte der ehemalige Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge.
Denkbar ist auch, dass Aytekin die Dortmunder Reaktionen nach den Spielen gegen die Bayern in den vergangenen Jahren ein wenig im Hinterkopf hatte. Bei Gelb-Rot für Bellingham hätte der BVB im Falle einer Niederlage gewiss die erste Verwarnung kritisiert und eine weitere Benachteiligung durch den Schiedsrichter beklagt.
Diese erste – vor allem schiedsrichtertaktisch motivierte, aber letztlich überzogene – Gelbe Karte für Bellingham schuf das Problem, über das nach dem Schlusspfiff gesprochen wurde. Aytekin versuchte, es später durch den Verzicht auf Gelb-Rot zu beheben – was zwar tatsächlich in der Addition beider Szenen ausgewogen und spieldienlich war, sich aber regeltechnisch kaum rechtfertigen liess.
Die persönlichen Strafen gegen Coman und Sané waren angemessen
In der zweiten Hälfte passte das Strafmass dann besser zum Spiel, es war besser nachvollziehbar, auch bei Gelb-Rot gegen Kingsley Coman in der 90. Minute nach dem zweiten eindeutigen taktischen Foul. Hier blieb dem Schiedsrichter definitiv keine Wahl.
Leroy Sanés leichten Tritt im Fallen gegen die Brust von Karim Adeyemi, der den Münchner zuvor gefoult hatte, nicht als Tätlichkeit zu bewerten und wie Adeyemis Vergehen nur mit einer Verwarnung zu ahnden, war ebenfalls angemessen.
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Nach dem Seitenwechsel konnte Deniz Aytekin auch seine grösste Stärke, die Spielleitung mittels Persönlichkeit und Kommunikation, besser ausspielen. Und wenn Modeste nicht noch den späten Ausgleichstreffer erzielt hätte, wäre der Unparteiische wohl kein Gesprächsthema gewesen.
Umso höher ist es ihm anzurechnen, dass er sich – wieder einmal – den Medien stellte und ehrlich erläuterte, warum er in der strittigsten Situation so entschied, wie er es tat. So gewährte er auch Einblicke in die spieltaktischen Erwägungen eines Schiedsrichters, die noch weit mehr Verbreitung finden müssten, weil sich die Spielleitung der Unparteiischen so besser verstehen lässt.
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