Schiedsrichter Patrick Ittrich ahndet in Wolfsburg ein Foul der Gäste erst, als diese kurz danach ins Tor treffen. Das ermöglicht eine Überprüfung durch den Video-Assistenten, führt aber auch zu Diskussionen. Auf Instagram erklärt der Unparteiische sein Vorgehen.
In der Partie des VfL Wolfsburg gegen den 1. FC Union Berlin (1:0) waren 54 Minuten gespielt, als sich eine Szene zutrug, die nicht nur für Debatten sorgte, sondern regeltechnisch betrachtet auch recht ungewöhnlich war. Beim Stand von 1:0 für die Hausherren kam der Berliner Taiwo Awoniyi an den Ball und setzte sich in der Mitte der Wolfsburger Hälfte gegen John Anthony Brooks und
Awoniyi lief in den Strafraum und passte den Ball zu Sheraldo Becker, der ihn ins Tor der Hausherren schob. Doch die Freude der Gäste währte nur ganz kurz, dann ertönte ein Pfiff von Schiedsrichter Patrick Ittrich.
Denn der Unparteiische hatte beim Zweikampf zwischen Awoniyi und Arnold einige Sekunden vor der Torerzielung ein Foulspiel des Angreifers wahrgenommen. Gepfiffen hatte er aber eben nicht sofort, sondern erst, nachdem der Ball im Tor lag.
Dieses Vorgehen kennt man vom Abseits: In knappen Situationen mit möglicher Torgefahr sollen die Assistenten, wenn sie eine strafbare Abseitsstellung wahrnehmen, ihre Fahne erst dann heben, wenn der Angriff beendet oder der Ball im Tor ist. Auch der Pfiff des Referees soll erst dann erfolgen.
Der Grund für diese Praxis hängt mit dem Video-Assistenten zusammen: Wenn der Abseitspfiff erst nach der Torerzielung kommt, dann kann der Treffer doch noch gegeben werden, falls der VAR bei der Überprüfung feststellt, dass kein Abseits vorlag.
Ein sofortiger Pfiff nach einem Fahnenzeichen hingegen unterbricht das Spiel unwiderruflich. Sollte sich dann zeigen, dass die Entscheidung falsch ist, wäre der Angriff dahin. Diese Verzögerung, zu der es in Spielen ohne VAR nicht kommt, hat also einen guten Grund.
Warum die Assistenten beim Abseits ihre Fahne später heben als bei Fouls
Die entsprechende Anweisung gilt in dieser ausdrücklichen Form nur für Abseitssituationen, und das aus einem plausiblen Grund: Sie sind objektiv messbar, und weil es bei ihnen häufig sehr knapp zugeht, kommt es naturgemäss vor, dass die Assistenten – deren Trefferquote bei über 90 Prozent liegt – hin und wieder danebenliegen.
Ist das bei einer Torerzielung der Fall, dann lässt sich der Fehler normalerweise rasch und eindeutig nachweisen. Es muss nichts interpretiert werden, deshalb genügt auch die Information durch den VAR. Der Schiedsrichter geht in diesen Fällen nicht selbst zum Monitor, um sich die Bilder anzusehen.
Geht es dagegen um die Bewertung von Zweikämpfen und Handspielen, dann ist das Ermessen des Referees gefragt. Deshalb sollen die Unparteiischen auf der Grundlage ihrer Wahrnehmung auf dem Feld grundsätzlich sofort entscheiden.
Manchmal kommt es aber zu Situationen, in denen ein Tor fällt, das nicht mehr anerkannt werden kann, weil der Schiedsrichter kurz zuvor wegen eines vermeintlichen Fouls oder Handspiels gepfiffen hat, damit jedoch eindeutig falsch lag.
In solchen Fällen ist nicht nur die Aufregung häufig gross, sondern es kommt dann auch die Frage auf, ob der Spielleiter mit seinem Pfiff nicht einfach noch einen Augenblick hätte warten können – wie bei den Abseitssituationen.
Ittrich erklärt auf Instagram seine Entscheidung
Regeltechnisch spricht zumindest nichts dagegen, und von Zeit zu Zeit geschieht es auch – wie eben beim Spiel in Wolfsburg. Patrick Ittrich gehört zu den immer noch relativ wenigen Schiedsrichtern im deutschen Profifussball, die in den sozialen Netzwerken aktiv sind. Und so hat er sein Vorgehen und seine Entscheidung in einem Live-Gespräch auf seinem Instagram-Account transparent gemacht.
Gemeinsam mit Sascha Thielert, einem seiner Assistenten, diskutierte er darüber mit Oliver Seidler, der die Partie in der Konferenz des Fernsehsenders Sky kommentiert hatte. Er habe, wie auch sein Assistent Christian Gittelmann, "ein Foulspiel von Awoniyi wahrgenommen, ein Ziehen am Trikot von Arnold", sagte Ittrich.
"Vielleicht hast du dich zu hunderttausend Prozent getäuscht"
Warum er trotzdem nicht sofort das Spiel unterbrochen hatte, erklärte Ittrich so: "Ich habe etwas gemacht, das nicht typisch, aber auch nicht verkehrt ist. Ich habe das Spiel weiterlaufen lassen, weil ich kurz gezögert habe: Pfeifst du sofort? In dem Moment sehe ich eine riesige Torchance und sage mir: Okay, vielleicht hast du dich zu hunderttausend Prozent getäuscht und lässt weiterspielen, damit der Video-Assistent eingreifen kann."
Der VAR in Köln habe die Kommunikation über das Headset mitbekommen. "Wir haben sofort gesagt: Stürmerfoul und 'delay'", so Ittrich weiter. "Delay", also "Verzögerung", ruft der Assistent an der Seitenlinie auch, wenn er in einer knappen Situation ein strafbares Abseits erkannt hat, aber wie vorgesehen erst nach dem Abschluss des Angriffs die Fahne heben wird.
"Als das Tor gefallen ist, haben wir noch mal gesagt: Stürmerfoul", erklärte der 43-jährige Referee aus Hamburg weiter. "Das hat der Video-Assistent dann überprüft." Aber da keine klare und offensichtliche Fehlentscheidung vorgelegen habe, sei die Entscheidung bestehen geblieben.
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Ittrichs Entscheidung: Schlüssig und vertretbar, dennoch irritierend
Für dieses ungewöhnliche Vorgehen habe er allerdings nicht nur Beifall bekommen, resümierte Patrick Ittrich selbstkritisch. "Hätte ich gleich gepfiffen, dann hätte es vielleicht keine Diskussionen gegeben, weil es nicht zum Torerfolg gekommen wäre. Das lässt die Seele natürlich hochkochen."
Nicht zu übersehen war auch eine gewisse Irritation bei den Spielern – nicht so sehr über die Entscheidung selbst, die vertretbar war, sondern vielmehr darüber, dass sie erst mit einigen Sekunden Verzögerung getroffen wurde, was die Spieler sonst nur vom Abseits kennen.
Trotzdem war Ittrichs Hintergedanke ein guter und schlüssiger. Hätte er gemeinsam mit seinem Assistenten Gittelmann bei der Bewertung des Zweikampfs zwischen Awoniyi und Arnold komplett danebengelegen, dann wäre eine Korrektur noch möglich gewesen, und das Tor hätte zählen können.
So aber führte die Verzögerung zu ein bisschen Verwirrung, weil die Spieler ein derartiges Vorgehen bei Foulspielen nicht gewöhnt sind. Am wichtigsten ist es jedoch immer, dass eine Entscheidung am Ende korrekt oder jedenfalls vertretbar ist. Und das war sie hier.
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