Die Bundesliga-Referees blicken auf ein schwieriges Wochenende zurück. In Mainz versagt überraschend die Torlinientechnik, doch der Schiedsrichter und sein Video-Assistent fangen den Fehler gekonnt auf. Wesentlich Schlimmeres passiert in Bochum: Nach einem Becherwurf gegen den Schiedsrichter-Assistenten muss der Unparteiische die Begegnung abbrechen.
Die Auftaktpartie zum 27. Spieltag der Fussball-Bundesliga zwischen dem VfL Bochum und Borussia Mönchengladbach am Freitagabend hatte ein jähes und skandalöses vorzeitiges Ende.
Während des laufenden Spiels traf in der 69. Minute ein von den Zuschauerrängen aus geworfener voller Getränkebecher den Schiedsrichter-Assistenten Christian Gittelmann mit voller Wucht am Hinterkopf.
Der 39-Jährige war sichtlich benommen, der Unparteiische Benjamin Cortus verliess mit ihm, dem anderen Assistenten Florian Heft und dem Vierten Offiziellen Norbert Grudzinski sofort das Feld und ging in die Kabine.
Dort entschied das Gespann, die Begegnung abzubrechen. Gittelmann wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo man eine Schädelprellung und ein Schleudertrauma diagnostizierte.
"Alternativlos" nannte Cortus später im Interview seinen Entschluss, das Spiel nicht wieder anzupfeifen. Zur wortgleichen Bewertung kamen der sportliche Leiter der Bundesliga-Referees, Lutz Michael Fröhlich, und DFB-Schiedsrichter-Lehrwart Lutz Wagner.
In der Bundesliga war zuletzt im April 2011 eine Partie abgebrochen worden, nachdem ein Mitglied des Schiedsrichterteams von einem Gegenstand getroffen worden war. Auch seinerzeit, im Spiel FC St. Pauli – FC Schalke 04, war es ein aus dem Publikum geworfener Bierbecher, der den Assistenten Thorsten Schiffner traf.
Werden die Unparteiischen attackiert, bleibt nur der Spielabbruch
Nur sehr theoretisch wäre es möglich, ein Mitglied des Schiedsrichterteams, das bei einem Angriff verletzt wird, durch den Vierten Offiziellen zu ersetzen wie bei einer Verletzung ohne Gewalteinwirkung. In der Praxis brechen die Unparteiischen das Spiel nach einer Attacke auf einen Spieloffiziellen fast immer ab. Das ist auch gut und richtig so.
Wenn ein Unparteiischer – der den Fussballregeln Geltung zu verschaffen hat und auf dem Feld gewissermassen Polizist, Staatsanwalt und Richter in Personalunion ist, also die uneingeschränkte Autorität auf dem Platz darstellt – tätlich angegriffen und dabei sogar verletzt wird, muss das Spiel sofort beendet werden. In allen Ligen. Das Gleiche gilt, wenn ein Assistent des Schiedsrichters attackiert wird.
"Fassungslos" mache ihn die Tat, sagte Christian Gittelmann. Zwar sei es ein einzelner Täter gewesen, aber es gebe "zu viele 'Einzelfälle'" im Fussball, und bereits bevor er getroffen worden sei, seien "immer wieder Gegenstände Richtung Spielfeld" geflogen.
Grösser als der körperliche Schaden ist oft der mentale
Über die Konsequenzen aus dem Abbruch muss jetzt die Sportgerichtsbarkeit des DFB entscheiden. Der Becher wurde offensichtlich aus einem Zuschauerbereich mit Fans des VfL Bochum geworfen, deshalb dürfte das Spiel gegen diesen Verein gewertet werden. So geschah es jedenfalls nach dem Abbruch der Partie im Hamburger Millerntor-Stadion im April 2011, als der Becherwurf aus den Reihen der St.-Pauli-Fans gekommen war.
Die Spielordnung der DFL sieht für den Fall, dass ein Klub für den Abbruch verantwortlich zu machen ist, eine Wertung mit 0:2 gegen diesen Verein und mit 2:0 für den Gegner vor. Es sei denn, das gegnerische Team lag zum Zeitpunkt des Abbruchs höher in Führung – dann gilt dieses Resultat. Da es 2:0 für die Borussia stand, als der Referee die Partie beendete, dürfte dieses Ergebnis auch in die Wertung eingehen.
Schiedsrichter-Chef Fröhlich sagte im Interview der Sportschau, Gittelmann gehe es "den Umständen entsprechend ganz gut". Er hob jedoch hervor, dass es nicht nur um den körperlichen Schaden gehe, der sich "Gott sei Dank in Grenzen" halte.
"Was in einer solchen Situation auch eine ganz grosse Rolle spielt, ist der mentale Schaden", der entstehe, "wenn man von hinten unvermittelt von einem vollen Bierbecher getroffen wird". Man werde Gittelmann "nach besten Kräften unterstützen, damit er diesen Vorfall auch mental bestmöglich verarbeiten kann", wird Fröhlich auf der Website des DFB zitiert.
Gittelmann selbst sagt, er werde sich "ein paar Tage nehmen, um zur Ruhe zu kommen und die Sache zu verarbeiten". Er sei "froh, wenn ich schnellstmöglich wieder auf den Platz zurückkehren kann".
Erste gravierende Panne bei der Torlinientechnologie
Zu einem Novum in der Bundesliga kam es am Samstag: Erstmals seit ihrer Einführung in der Saison 2015/16 lieferte die bislang reibungslos funktionierende Torlinientechnologie ein offensichtlich falsches Ergebnis.
Im Spiel des 1. FSV Mainz 05 gegen Arminia Bielefeld (4:0) vermeldete das System nach 15 Minuten auf der Uhr von Schiedsrichter Felix Zwayer ein Tor, obwohl der Ball die Torlinie der Bielefelder nach einem Kopfball von Moussa Niakhaté nicht vollständig überschritten hatte.
Zwayer erkannte nach dem Signal zwar zunächst auf Tor, war jedoch wie sein Assistent, der den Ball im Spiel ebenfalls nicht hinter der Torlinie gesehen hatte, skeptisch. Deshalb bat er den Video-Assistenten Martin Thomsen in Köln, ihm die Bilder auf dem Monitor am Spielfeldrand zu zeigen.
Der Referee wollte sich persönlich überzeugen, um "den Spielern eine authentische Erklärung anbieten zu können", wie er im Interview nach dem Spiel sagte. Nach dem On-Field-Review annullierte Zwayer den Treffer – denn es lag offenkundig ein Fehlalarm vor.
Als Fernsehzuschauer mag man diese Angelegenheit als eindeutig empfinden. Doch wenn man sich in die Situation des Unparteiischen und des VAR versetzt, ahnt man, dass bei ihnen der Puls in diesen Augenblicken deutlich in die Höhe gestiegen sein wird.
Gesunde Skepsis statt blindem Vertrauen in die Technik
Denn wenn eine Technologie sieben Jahre lang fehlerfrei funktioniert, rechnet man nicht unbedingt mit einer Panne und stellt womöglich eher die eigene Wahrnehmung in Frage. Umso höher ist es Zwayer und Thomsen anzurechnen, dass sie der Technik nicht einfach folgten, sondern Zweifel hatten und ihren eigenen Augen mehr vertrauten.
Wie es zu diesem Fehler kam, muss nun der Anbieter Hawk-Eye aufarbeiten. Sein System basiert auf Kameras, die unter dem Stadiondach angebracht sind und die Position des Balles genau erfassen.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen kann so berechnet werden, ob der Ball die Torlinie vollständig überschritten hat oder nicht. Bislang gab die Technik keinen Anlass zur Beanstandung.
In Mainz aber erhielt Schiedsrichter Zwayer zum einen das Torsignal auf seiner Uhr nicht wie gewohnt sofort, sondern erst mit deutlicher Verzögerung. Zum anderen zeigte die grafische Animation für das Fernsehen den korrekten Ort des Balles im Augenblick des Signals: vor der Torlinie. Dennoch löste das System den Toralarm aus.
Dabei hatte ein Mitarbeiter von Hawk-Eye es wie üblich vor dem Spiel neu kalibriert, das Schiedsrichterteam hatte es zudem einem Praxistest unterzogen. Dabei gab es keine Probleme oder Auffälligkeiten.
Am Ende aber musste der Unparteiische mithilfe des VAR gewissermassen die Technik überstimmen. Fast 60 Jahre nach ihrer Gründung ist die Bundesliga um ein echtes Kuriosum reicher.
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