In Wolfsburg rempelt Ridle Baku einen Stuttgarter zu Boden, kurz bevor dieser den Ball aufs Tor schiessen kann. Der Schiedsrichter lässt allerdings weiterspielen, was der VAR nicht klar falsch findet. Das sehen viele anders - aus gutem Grund.
Nicolas Gonzales schien die Welt nicht mehr zu verstehen. Neun Minuten waren im Spiel des VfL Wolfsburg gegen den VfB Stuttgart (1:0) absolviert, da lief der Stuttgarter Stürmer mit dem Ball am Fuss in den Strafraum der Niedersachsen und stand kurz vor dem Torschuss.
Doch Ridle Baku trennte ihn mit einem rustikalen Einsatz des Oberkörpers vom Ball. Auch am Fuss kam es zu einem - allerdings nur geringfügigen - Kontakt. Gonzalez fiel, doch Schiedsrichter Florian Badstübner zeigte sofort an: Da war nichts, es wird weitergespielt.
Betrachtet man sich die Szene aus der 9. Minute noch einmal aus unterschiedlichen Kameraeinstellungen an, dann kann man allerdings Zweifel an dieser Entscheidung haben. Denn Bakus Körpereinsatz war das, was man im Allgemeinen einen Bodycheck nennt und was regeltechnisch als Rempeln firmiert.
Bakus Körpereinsatz war nur gegen den Gegner gerichtet
Natürlich: Fussball ist ein Kontaktsport, und nicht jeder Kontakt ist strafbar. Doch zum einen war die eingesetzte Kraft ausschlaggebend dafür, dass Gonzalez zu Boden ging. Zum anderen gab es keinen Versuch von Baku, den Ball zu erreichen. Seine Aktion richtete sich ausschliesslich gegen den Gegner.
Dieser hatte einen Vorsprung und hätte den Ball im nächsten Moment aufs Tor schiessen können. Trotzdem kam es nach der Überprüfung der Szene durch Video-Assistent Günter Perl nicht zu einem On-Field-Review. Warum eigentlich nicht?
Zwei Erklärungen sind denkbar. Der erfahrene Perl könnte ein Review empfohlen, Badstübner in seinem vierten Bundesligaspiel diesen Rat jedoch abgelehnt haben. Das wäre möglich und erlaubt, aber es ist unwahrscheinlich.
Eine Frage der Eingriffsschwelle für den VAR
Eher dürfte der VAR zu dem Schluss gekommen sein, dass die Entscheidung des Unparteiischen nicht klar und offensichtlich falsch war und deshalb kein Gang an den Monitor am Spielfeldrand erforderlich war. Doch wäre dieser Entschluss wirklich zu rechtfertigen?
Wieder einmal geht es hier um die sogenannte Eingriffsschwelle des VAR. Diese soll, so lautet die einhellige Meinung der Regelhüter vom International Association Board (Ifab) und der Verbände von der Fifa bis zum DFB, grundsätzlich hoch sein.
Vor allem, wenn der Schiedsrichter die betreffende Szene klar wahrgenommen und bewertet hat - denn prinzipiell soll genau dieser Eindruck in der Realgeschwindigkeit auf dem Spielfeld entscheidend bleiben.
Hat dem Referee dagegen die Wahrnehmung ganz oder teilweise gefehlt - zum Beispiel, weil ihm ein Spieler für einen Moment die Sicht verdeckte oder er nicht ideal positioniert war -, dann liegt die Eingriffsschwelle niedriger.
Falsche versus fehlende Wahrnehmung
Was der Unparteiische in einer Situation, die der VAR überprüfen kann, gesehen hat, kommuniziert er gegenüber dem Video-Assistenten. Dieser muss dann bewerten, ob ein klarer und offensichtlicher Fehler vorliegt, also eine falsche Wahrnehmung, oder ob etwas Spielrelevantes "übersehen" wurde, also eine fehlende Wahrnehmung gegeben ist.
Dass es vor allem bei der Zweikampfbewertung einen Ermessensspielraum gibt, liegt auf der Hand. Er berührt auch die Frage, wann eine Entscheidung so unzweifelhaft falsch ist, dass sie sich selbst beim besten Willen nicht mehr vertreten lässt.
Diese Grenzziehung ist gerade dann schwierig, wenn der Unparteiische selbst alles im Blick hatte. Und sie ist umso kniffliger, wenn es sich um Zweikämpfe im Oberkörperbereich handelt, wo es häufig nicht leicht zu bestimmen ist, ob die Wirkung tatsächlich zum Impuls passt.
Ifab und FIFA: Zu viele Eingriffe
Bei der Szene in Wolfsburg müsste man also fragen: War es, wenn sich die Zweikampfbeurteilung insgesamt sehr grosszügig ausnahm, so eben noch hinnehmbar, den Einsatz von Baku gegen Gonzalez durchzuwinken? Oder musste man schon einen klaren und offensichtlichen Fehler konstatieren?
Zuletzt hatten das Ifab und die Fifa gegenüber den Verbänden, die in ihren Ligen den VAR einsetzen, noch einmal darauf hingewiesen, dass es zu viele Eingriffe gebe. Die Entscheidung des Schiedsrichters solle bei vollständiger Wahrnehmung einer Szene bestehen bleiben, sofern sie nicht völlig abwegig ist.
Wahrscheinlich hatte Florian Badstübner auf dem Platz den Eindruck, dass Nicolas Gonzalez zu bereitwillig zu Boden gegangen ist, weshalb ihm ein Elfmeterpfiff - und die Rote Karte wegen einer nicht ballbezogenen "Notbremse" - übertrieben schien.
Ein Eingriff wäre angemessen gewesen
Doch die Bilder machen deutlich, dass es für dieses Urteil letztlich kein gutes Argument gibt. Dafür war Bakus Bodycheck zu vehement, und das bei offensichtlichem Desinteresse, den Ball zu erreichen.
Selbst wenn der Unparteiische gegenüber dem Video-Assistenten also kommuniziert haben sollte, dass ihm der Körpereinsatz des Wolfsburgers nicht für einen Elfmeterpfiff genügt hat, wäre ein Eingriff geboten gewesen.
Den Einwand, dass die Eingriffsschwelle dann zu niedrig gewesen wäre, würden vermutlich nicht allzu viele Menschen gelten lassen.
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