Von den vielen Stuttgarter Superlativen dieser Saison ragt einer ganz besonders heraus. 65 Tore aus dem freien Spiel hat der VfB bisher erzielt, nach 33 Spieltagen sind das im Schnitt fast zwei Treffer pro Partie. Der VfB Stuttgart hat aus einer ehemals kümmerlichen Offensive eine kaum zu stoppende Angriffsmaschine geformt, die in der Geschichte des Klubs ihresgleichen sucht.
Man muss bis zum Beginn der 1980er Jahre zurückgehen, um sich an ähnlich spektakuläre Stuttgarter Mannschaften zu erinnern. Damals schossen Spieler wie Karl Allgöwer, Peter Reichert, Hermann Ohlicher oder Didier Six Tore am Fliessband in drei Spielzeiten in Folge. Und natürlich wurde in den letzten Wochen immer auch wieder das Magische Dreieck der 1990er Jahre herangezogen, mit Krassimir Balakov, Giovane Elber und Fredi Bobic in den Hauptrollen.
Stuttgarter Ikonen, die mittlerweile aber abgelöst wurden von ihren legitimen Nachfolgern. Und die den einen oder anderen vermeintlichen Rekord für die Ewigkeit nun los sind. Wobei überhaupt etliche Bestmarken pulverisiert wurden oder vielleicht noch werden, immerhin steht am Wochenende ja noch ein Spiel gegen Borussia Mönchengladbach an.
Und wenn man die Mannschaft in den letzten Wochen erlebt hat, wie unglaublich locker und doch gleichzeitig auch scharf und hungrig sie weiter Fussball spielt, die Lust auf eine Revanche für die 1:3-Niederlage der Hinrunde und Gladbachs Harmlosigkeit addiert, sollte man sich am Samstag aus Sicht der Borussia besser auf einen letzten fulminanten Stuttgarter Sturmlauf in dieser Saison gefasst machen.
Champions-League-Qualifikation ist eine Sensation
Den Stuttgarter Fiebertraum erst möglich gemacht hat Sebastian Hoeness. Seit etwas mehr als einem Jahr verändert der 42-Jährige den Klub seiner Jugend, Hoeness lernte das Fussballspielen in Bad Canstatt, wo damals sein Vater Dieter als Manager die Geschicke des Klubs führte. Und unter anderem Deutscher Meister mit dem VfB wurde.
Jetzt richtet Sebastian Hoeness den Verein in rasender Geschwindigkeit im sportlichen Bereich neu aus, im Zusammenspiel mit Sportchef Fabian Wohlgemuth und ganz vielen fleissigen Helfern in der zweiten oder dritten Reihe. Aber das Gesicht des VfB Stuttgart und der Vordenker: Das ist Sebastian Hoeness.
Ihm ist es in lediglich 13 Monaten gelungen, einen darbenden Klub zu neuem Leben zu erwecken. Als Hoeness im April 2023 nach Stuttgart zurückkehrte, war die Mannschaft Letzter. Hoeness schaffte erst den Sprung auf den Relegationsplatz und beinahe auch ins DFB-Pokalfinale und am Ende in zwei Spielen gegen den HSV auch souverän den Klassenerhalt.
Dann kam der Transfersommer und die Sorgen bei so ziemlich allen VfB-Fans zurück: Nach zwei Abstiegen in kurzer Zeit und den Corona-Jahren waren die finanziellen Mittel in Stuttgart aufgebraucht, der Klub zwingend angewiesen auf unter anderem satte Transfererlöse. Also wurde das Tafelsilber verkauft, Borna Sosa, Dino Mavropanos und am Ende auch Wataru Endo, der wichtigste Spieler der letzten drei Jahre.
Die meisten Experten bescheinigten dem VfB im August eine abermals schwierige Saison, beim einen oder anderen waren die Stuttgarter einer der möglichen Abstiegskandidaten. Der Sprung jetzt in die Champions League und womöglich sogar noch auf Platz zwei ist angesichts der Ausgangslage eine Sensation.
Saison der Superlative
Noch nie hat eine Stuttgarter Mannschaft so viele Siege in einer Saison eingefahren wie diese (aktuell 22), noch nie so ein atemberaubendes Sturm-Duo präsentiert wie Serhou Guirassy und Deniz Undav: Beide zusammen kommen auf unglaubliche 58 Scorerpunkte.
Guirassy kam aus dem Nichts zurück in die Bundesliga, Undav ist von Brighton ausgeliehen, vor ein paar Jahren spielte der 27-Jährige noch beim SV Meppen in der 3. Liga. Das ist ein grosser, sehr entscheidender Unterschied bei Hoeness' Arbeit: Anders als in München, Dortmund, Leipzig oder Leverkusen bekam der Trainer keine fertigen, hoch dotierten Spieler auf den Hof gestellt. Keinen Kane, keinen Openda, keinen Bonifce oder Füllkrug. Trotzdem hat er bis auf Bayer und
Hoeness musste aus dem bestehenden Kader etwas Neues entwickeln. Natürlich war die Vorarbeit so schlecht nicht, immerhin deuteten Spieler wie Enzo Millot, Hiroki Ito oder
Hoeness ist der heimliche Trainer der Saison
Xabi Alonso mag der offizielle Trainer der Saison sein, Leverkusens Saison ist einfach zu magisch, um den Spanier bei der Wahl zu übergehen. Und auch, was Frank Schmidt in Heidenheim einmal mehr vollführt hat, ist überragend. Der heimliche Trainer der Saison sollte aber Sebastian Hoeness sein.
Die Stuttgarter Spielanlage ist so attraktiv und teilweise spektakulär, dass sie problemlos mit jener der Überflieger aus Leverkusen mithalten kann – nur ohne deren finanziellen Möglichkeiten. Hoeness hat ein Perpetuum mobile erschaffen, das aus sich und seinen Ideen heraus Energie generiert.
Unter Hoeness' Vorgänger war die Mannschaft kaum in der Lage, sich zwei brauchbare Torchancen in 90 Minuten zu erspielen. Jetzt erzielt sie im Schnitt deutlich über zwei Tore pro Spiel. Und das fast ohne Standards. Eine der wenigen Teildisziplinen, die noch gehörig Luft nach oben haben. Was nur auf den ersten Blick eine gute Nachricht für die Konkurrenz ist.
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Kann der VfB das Niveau dieses Mal halten?
Vier seiner Spieler hat Hoeness zu deutschen Nationalspielern gemacht, im Winter bot ein saudi-arabischer Klub angeblich 30 Millionen Euro Ablöse für den Japaner Ito. Es gibt kaum einen Spieler im Kader, der im letzten Jahr nicht einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht hat. Auch das ist originäre Trainerarbeit, abseits der nackten Ergebnisse: Jeden Spieler jeden Tag ein kleines Stückchen besser zu machen.
Stuttgarter Spieler sind begehrt, die Nachfragen nach Guirassy, Undav, Führich, Millot, Angelo Stiller oder das 500.000-Euro-Schnäppchen Maximilian Mittelstädt dürften die sportliche Führung den Sommer über schwer beschäftigen.
Mit dem Erfolg wachsen auch die Aufgaben. Daran werden sie sich auch in Stuttgart gewöhnen und den einen oder anderen Rückschlag einkalkulieren müssen. Bisher wussten die Mannschaft und ihr Trainer mit Negativerlebnissen sehr gut umzugehen, konnten stets schnell den Gegentrend einläuten.
Das dürfte mit nun erstmals seit elf Jahren wieder drei Wettbewerben etwas schwieriger werden. Die Voraussetzungen sind trotzdem ziemlich gut und wer weiss: Vielleicht lernt der Klub ja dieses eine Mal aus den Fehlern der Vergangenheit. Bisher war es jedenfalls eine Stuttgarter Spezialität, nach grossen Erfolgen nur umso schneller wieder abzustürzen und die gute Ausgangslage nicht zu nutzen. Sebastian Hoeness dürfte aber auch dafür schon längst einen entsprechenden Plan im Kopf haben.
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