Nicht Harry Kane, nicht Lois Openda oder Niclas Füllkrug: Stuttgarts Stürmer Serhou Guirassy ist das Mass aller Dinge in der Bundesliga. Das zeigt sich nicht nur an den nackten Zahlen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Sven Mislintat war am Samstagabend im Dortmunder Stadion zu Gast. Der designierte BVB-Zugang verfolgte zunächst gebannt die beeindruckende Choreografie zum 50. Geburtstag des Fussballtempels und später das Spitzenspiel des 28. Spieltags – das Mislintat wie eine Reise zwischen Vergangenheit und Zukunft vorkommen musste.

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Auf der einen Seite die Borussia, für die er wohl bald in welcher Funktion auch immer wieder arbeiten wird. Und deren Spieler er ganz genau unter die Lupe genommen haben dürfte.

Auf der anderen Seite der VfB Stuttgart: Eine Mannschaft, die immer noch stark geprägt ist von Mislintats Einfluss als Sportdirektor. Gleich acht Stuttgarter Spieler kamen am Samstag zum Einsatz, die Mislintat in seiner Funktion als Sportdirektor einst nach Stuttgart holte, mit dem später nach Dortmund transferierten Torhüter Gregor Kobel waren es sogar neun.

Der letzte dieser vielen Transfers dürfte in der Rückschau für den VfB Stuttgart der wichtigste gewesen sein. Am letzten Tag der Transferperiode im Sommer 2022 holte Mislintat einen gewissen Serhou Guirassy vom französischen Erstligisten Stade Rennes. Mehr als ein Leihgeschäft war in der Kürze der Zeit mit den sehr renitenten Franzosen nicht zu vereinbaren, der VfB benötigte aber dringend einen Ersatz für den kurz davor zu den Wolverhampton Wanderers abgewanderten Sasa Kalajdzic.

Vielleicht auch deshalb und weil Guirassys erstes Engagement in jungen Jahren beim 1. FC Köln nicht eben von Erfolg gekrönt gewesen war, schien das alles wie eine Verzweiflungstat. 49 Scorerpunkte (40 Tore und neun Assists) aus 52 Spielen später aber darf man wohl ohne Übertreibung konstatieren: Dieser eine Transfer war selbst für das oft zitierte "Diamantenauge" eine Glanzleistung.

Ein Rekord nach dem nächsten

Es ist schon viel geschrieben und berichtet worden über Guirassys Fabelsaison beim und mit dem VfB, beim Sieg am Samstag gegen Borussia Dortmund kamen aber gleich einige neue Geschichten dazu. Nicht nur, weil Guirassy das Sechs-Punkte-Spiel im Kampf um die Champions League mit dem einzigen Treffer des Abends entschied und jene Effizienz an den Tag legte, die dem Gegner letztlich fehlte.

Sondern weil der 28-Jährige einfach nicht aufhören will, einen Rekord nach dem anderen zu brechen. Schon in der Vorwoche hatte Guirassy mit seinem kongenialen Partner Deniz Undav die Uralt-Bestmarke von Jürgen Klinsmann und Karl Allgöwer aus der Saison 1985/86 pulverisiert. Die hatten es als Sturmduo einst auf 37 Tore in einer Saison gebracht, Guirassy und Undav stehen nun sechs Spieltage vor Schluss schon bei zusammen 39 Treffern.

In Dortmund erzielte Guirassy sein 24. Saisontor und hat damit den Rekord von Mario Gomez aus der Saison 2008/09 zumindest schon eingestellt. Noch ein Tor mehr und Guirassy ist in der langen Stuttgarter Geschichte auch hier die Nummer eins.

Keiner eröffnet öfter als Guirassy

Noch viel wichtiger als die schiere Zahl an Toren ist aber, wann der Guineer für seine Mannschaft zuschlägt. Schon zum neunten Mal in dieser Saison hat Guirassy das wichtige 1:0 für seine Mannschaft erzielt. In sieben dieser neun Spiele siegte der VfB am Ende, nur ein Spiel (1:5 in Leipzig) ging danach verloren.

Kein anderer Spieler der Liga bringt seine Mannschaft öfter in Führung als Guirassy, der auch hier drauf und dran ist, den nächsten Rekord zu brechen: Die Bestmarke in dieser Disziplin teilen sich Stefan Kiessling (2012/13), Ailton (2003/04) und Gerd Müller (1969/70) mit je zwölf 1:0-Führungen. Und Guirassy, der in den letzten fünf Ligaspielen immer mindestens einmal getroffen hat, hat ja noch sechs Spiele Zeit.

Nur 70 Minuten für ein Tor

In der Torjägerliste dürfte Bayerns Harry Kane mit seinen 32 Toren kaum noch einzuholen sein und von hinten drängelt der Leipziger Lois Openda nach seinem Doppelpack vom Wochenende mit nun auch schon 21 Treffern. Während Kane und Openda aber in jedem der bisher 28 Bundesligaspiele auf dem Platz standen, fehlte Guirassy dem VfB auf Grund von Verletzungen und der Abstellung zum Afrika-Cup in sechs Partien.

Seine Torquote von im Schnitt 1,09 Treffern pro Spiel wird aktuell nur von Kane (1,14 Tore pro Spiel) übertroffen und ist - natürlich - für einen Spieler des VfB Stuttgart zu diesem Zeitpunkt einer Saison Vereinsrekord. Aber: Guirassy benötigt pro Tor im Schnitt nur 70 Minuten, Kane deren 77 und Openda schon 104. Zumindest nach dieser Lesart ist Guirassy also der gefährlichste Angreifer der Liga. Und vielleicht auch über die reinen Zahlen und Statistiken hinaus.

Guirassy und Stuttgart winkt die grösste Belohnung

Harry Kane wird aller Voraussicht nach die ersehnte erste Meisterschaft seiner Karriere nun auch beim FC Bayern verpassen, ausgerechnet in seinem ersten Jahr in München wird die Titelserie des Rekordmeisters nach elf Meisterschaften in Folge enden.

Openda kann mit Leipzig – zuletzt immerhin zweimal in Folge Pokalsieger – in seiner Premierensaison auch nur noch das Minimalziel Champions-League-Qualifikation erreichen.

Für die beiden erfolgsverwöhnten Klubs endet diese Spielzeit also eher enttäuschend. Ähnlich sieht es auch beim Torschützenkönig der letzten Saison aus, bei Niclas Füllkrug. Dessen erstes Jahr in Dortmund kann ebenfalls maximal noch mit der Qualifikation für die Königsklasse enden, in der Torjägerliste ist Füllkrug mit elf Treffern zwar ganz ordentlich, aber auch weit abgeschlagen von den Spitzenkräften der Liga unterwegs.

Guirassy und der VfB Stuttgart aber können tatsächlich etwas ganz Grosses schaffen: Zuletzt gelang Borussia Mönchengladbach der gewaltige Satz vom Relegations- zum Champions-League-Teilnehmer in der folgenden Saison. Das war vor zwölf Jahren. Der Einzug der Schwaben in den wichtigsten Klubwettbewerb der Welt wäre eine kleine Sensation – und für Serhou Guirassy der krönende und irgendwie auch logische Abschluss einer fulminanten Saison.

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