Der VfB Stuttgart hat einen überaus erfolgreichen Saisonstart hingelegt, trotz vieler Nackenschläge zuletzt, der Abgänge wichtiger Spieler und erheblicher finanzieller Zwänge. Wie hat der VfB das geschafft?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

In einer der wirtschaftsstärksten Regionen Europas ist man Spitzenleistung gewohnt. Akkurates Haushalten, harte Arbeit und immer noch ein bisschen mehr schaffen als andere: Dafür steht "the länd", also Baden-Württemberg. Allerdings steht der grösste Sportverein des Landes dafür schon viel zu lange nicht mehr. Was den VfB Stuttgart stattdessen zu einer Fahrstuhlmannschaft gemacht hat, manchmal sogar zur Skandalnudel der Liga. Dabei war der VfB doch früher einmal eine der Top-Adressen des deutschen Fussballs.

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Das ist nur schon sehr lange her, genauer gesagt rund anderthalb Jahrzehnte. Seit der Meisterschaft 2007 und einem letzten Einzug in die Champions League kurz darauf torkelte der VfB von einem Schlamassel in den nächsten. Zwei Abstiege hatte Stuttgart zu verkraften, die finanziellen Verluste durchbrachen inklusive der Corona-Zeit problemlos die 100-Millionen-Euro-Grenze.

Einen dritten Abstieg in so kurzer Zeit hätte dieser Klub wohl kaum verkraften können, jedenfalls nicht so gut wie 2016 und 2019, wo der sofortige Wiederaufstieg gelang und die finanziellen Schäden damit nicht noch gravierender ausfielen. Warnende Beispiele gibt es schliesslich genug, ob in Hamburg, Kaiserslautern, Nürnberg oder Hannover.

Umso wichtiger war der Klassenerhalt im letzten und in diesem Sommer. Die sportlichen Nahtoderfahrungen mit der Last-Minute-Rettung im Mai 2022 und der überstandenen Relegation vor wenigen Wochen braucht so schnell keiner mehr, der es mit dem VfB hält. Ein bisschen weniger Drama und dafür eine Spur mehr Entspannung täten allen im Stuttgarter Kessel wohl ganz gut.

Ballerkönige aus Stuttgart

Da trifft es sich ganz gut, dass die Stuttgarter Mannschaft sich tatsächlich anschickt, genau das zu liefern: Eine solide, entspannte, eine ruhige Saison ohne grosse Aufregung. Zumindest lässt der überaus geglückte Start in die neue Spielzeit die Hoffnungen darauf reifen. Neun Punkte hat der VfB schon eingefahren und das nach nur vier Spieltagen - in der letzten Saison waren es nach elf Spieltagen immer noch erst acht Zähler.

Keine Mannschaft hat aktuell mehr Tore geschossen als der VfB, 14 sind es jetzt schon. Acht davon gehen auf das Konto von Serhou Guirassy. Der Angreifer hat dafür keinen einzigen Elfmeter benötigt wie etwa die Torschützenkönige der letzten Saison, Niclas Füllkrug (fünf) und Christopher Nkunku (drei) - und trotzdem steht Guirassy schon jetzt bei der Hälfte der Füllkrug- und Nkunku-Ausbeute der gesamten letzten Saison (jeweils 16 Tore).

Hoeness' bärenstarker Punkteschnitt

Ist das nun alles ein Zufall? Nur eine Momentaufnahme? Waren die Auftaktgegner zu schwach - immerhin setzte es beim einzigen Vergleich mit einem Spitzenteam ein 1:5 in Leipzig? Oder entwickelt sich der VfB Stuttgart tatsächlich wieder zu einem etwas seriöseren Bundesliga-Klub mit einer Mannschaft, die sich einfach mal eine geruhsame Saison gönnt?

Der Trend zumindest unterstützt diese Annahme. Und er hat ganz entscheidend zu tun mit der Amtsübernahme von Sebastian Hoeness. Nach den bleiernen Monaten unter Bruno Labbadia, dem dritten Trainer nach Rino Matarazzo und Michael Wimmer, hatte der VfB nur noch diesen einen Schuss.

Es ist müssig zu spekulieren, ob Labbadia mit seinem Defensiv-Fussball nicht auch irgendwie die Klasse noch gehalten hätte (Anzeichen gab es dafür keine). Tatsache ist, dass Hoeness' Punkteschnitt nach 17 Pflichtspielen bei 2,0 liegt. Labbadia hatte bis zu seiner Demission 0,75 Punkte aus zwölf Spielen geholt.

Chance zur Entwicklung

Hoeness hat mit dem VfB seit Anfang April ganze drei Spiele verloren: Das 1:5 in Leipzig vor ein paar Tagen, das Halbfinale im DFB-Pokal gegen Eintracht Frankfurt (2:3) und beim, zugegeben überaus indiskutablen, 1:2 im Abstiegsknaller gegen Hertha BSC. Nun ist es vielleicht ein wenig verfrüht, nach einer gelungenen Halbserie schon wieder von höheren Zielen als dem Klassenerhalt zu träumen.

Aber in einer Saison mit zwei Underdog-Aufsteigern und dazu fünf, sechs notorisch gefährdeten Mannschaften (Augsburg, Bochum, Werder, Mainz, Köln, Gladbach) ist die Chance günstig wie nie, unter Wettkampfbedingungen und ohne die ganz grosse Angst vor dem erneuten Desaster eine veritable Entwicklung hinzulegen - auf allen Ebenen.

Die finanzielle Not ist weiter gross in Stuttgart, die auf der Jahreshauptversammlung präsentierten Zahlen lassen da keinerlei Interpretationsspielraum. Im Sommer wurden Spieler für 50 Millionen Euro verkauft, Leistungsträger wie Dinos Mavropanos und Borna Sosa und der König von Bad Cannstatt, Wataru Endo. Ausgeben durfte Sportchef Fabian Wohlgemuth aber nur rund 20 Millionen für Zukäufe. Der Rest fliesst in die Bilanzen oder in den teuren Stadionumbau.

Guirassy-"Risiko" hat sich gelohnt

Wohlgemuth hat für kleines Geld eingekauft oder Spieler ausgeliehen wie Torhüter Alexander Nübel oder den sehr interessanten, aber zuletzt noch verletzten Angreifer Deniz Undav. Nur bei Guirassy hat sich der VfB nicht lumpen lassen. Neun Millionen Euro Ablöse waren für Stuttgarter Verhältnisse eigentlich kaum machbar - aber auch kein allzu grosses Risiko. Guirassy wurde noch vor den Relegationsspielen gegen den HSV fest verpflichtet. Bei einem Abstieg wäre der Angreifer ziemlich sicher gewechselt und hätte wenigstens noch einen ordentlichen Gewinn eingebracht.

Diese Gefahr bestand tatsächlich auch noch bis weit hinein in die Sommerpause - nur wollte offenbar keiner der vielen zahlungskräftigen Klub im In- und Ausland den 27-Jährigen unbedingt haben. Also schiesst Guirassy halt beim VfB weiter seine Tore. In Hoeness' 4-2-3-1-System ist einiges auf den Stossstürmer zugeschnitten. Mit Undav an seiner Seite kann der VfB aber zum einen sofort auch umstellen und ist zum anderen spielerisch mittlerweile so weit, dass auch andere Spieler immer mehr Verantwortung übernehmen und aufblühen.

Millot, Führich, Stiller und ein bisschen Brighton-Fussball

Enzo Millot war unter Labbadia allenfalls ein Ergänzungsspieler, Nummer 15 oder 16 im Kader. Seit ein paar Monaten ist der junge Franzose so etwas wie der offensive Kreative des Stuttgarter Spiels und dazu noch torgefährlich. Chris Führich war zwei Jahre lang ein zwar begabter, aber auch wenig zielstrebiger Spieler mit enormen Problemen in der Entscheidungsfindung. Plötzlich wird Führich richtig produktiv.

Angelo Stiller ist auf Hoeness' ausdrücklichen Wunsch aus Hoffenheim gekommen. Im Zusammenspiel mit dem eher defensiven Atakan Karazor gibt Stiller den Takt im Zentrum vor und unterstreicht das spielerische Element im Stuttgarter Spiel, das sich unter Hoeness nicht rasant, aber doch stetig entwickelt und in seiner Ausprägung und seinem Stil an jenen Fussball erinnert, der in der englischen Premier League im vergangenen Jahr für Furore gesorgt hat: den von Brighton & Hove Albion. Auch dort wird ein etwas anderer (Offensiv-)Fussball gespielt, mit einigen hochinteressanten jungen Spielern im Kader.

Vorübergehend Tabellenführer?

Natürlich sind erst vier Spiele gespielt und natürlich kann mal wieder alles ganz anders kommen. Immerhin ist das ja immer noch der VfB Stuttgart. Aber diese Mannschaft besitzt ein sehr ordentliches Potenzial und dienliche Erfahrungswerte aus den vergangenen Jahren, die nur helfen können in der Entwicklung. Mit Sebastian Hoeness einen Trainer mit einer erfrischen, mutigen Spielidee und in Serhou Guirassy einen Angreifer, der Lust auf mehr macht.

Am Freitagabend kann der VfB bei einem Sieg über Darmstadt 98 zumindest für eine Nacht Tabellenführer der Bundesliga werden. Das letzte Mal, als die Stuttgarter nach einem ersten Spieltag alleiniger Tabellenführer waren, war am 19. Mai 2007: Damals feierte der VfB Stuttgart nach einem 2:1-Sieg über Energie Cottbus die deutsche Meisterschaft.

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