Eine neue Software soll angeblich errechnen können, ob junge Talente das Zeug zum Profifussballer haben. Entscheidet also bald der Computer, wer in der Bundesliga kicken darf und wer nicht?
Stellen Sie sich einmal folgendes Szenario vor: Sie sind ein junger, talentierter Fussballspieler und träumen von der grossen Karriere. Die Jugendabteilungen sämtlicher Bundesligisten haben schon bei Ihnen angeklopft, die ersten Spielerberater melden sich.
Sie haben Ihr ganzes Leben auf den Fussball ausgerichtet und gute Chancen, später damit Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch es kommt der Tag, an dem ein Computerprogramm berechnet, dass Sie doch nicht das Zeug zum Profi haben. Die Software behauptet: Sie erfüllen nicht die genetisch-körperlichen Voraussetzungen.
Plötzlich flacht das Interesse der Jugendabteilungen ab. Auch die Spielerberater möchten nichts mehr von Ihnen wissen. Der Traum vom Profifussball ist geplatzt!
Mathematische Formel errechnet Karriere-Chancen
Sie denken, dieses Szenario ist eine weit entfernte Zukunftsvision? Von wegen! Das Berliner Start-up "4talents analytics" hat nämlich eine Software entwickelt, mit der sich angeblich errechnen lässt, ob ein Youngster im Fussball etwas erreichen kann - oder nicht.
Wie das funktionieren soll? Kurz gesagt: Körpermasse, Schnelligkeit sowie koordinative und kognitive Fähigkeiten werden mit Messungen und Tests ermittelt. Eine mathematische Formel errechnet dann, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Kind später die vielen genetisch-körperlichen Voraussetzungen für den Leistungssport erfüllen wird.
"Dieser Erwartungswert weist selbstverständlich statistische Unsicherheiten auf. Wir können aber sehr genau sagen, ob ein Kind eine für den Fussball vorteilhafte Begabungskombination besitzt", heisst es auf der Webseite.
1. FC Union Berlin und Dynamo Dresden nutzen die Software bereits
Die Fussballbranche scheint an dem System interessiert zu sein. Laut einem Bericht des Tagesspiegels kooperieren der Zweitligist Dynamo Dresden und Bundesliga-Aufsteiger 1. FC Union Berlin bereits mit "4talents analytics".
Könnte Talentscouting per Computer bald zum Standard werden und über die Zukunft junger Fussballspieler entscheiden? Wir haben uns in der Branche umgehört und erhielten unterschiedliche Antworten.
Der Spielerberater Oliver Lehmann aus Stuttgart ist von der Idee angetan – mit Abstrichen: "Wir würden die Software gerne nutzen. Aber auch Prognosen stimmen nicht immer." Er verweist auf erfolgreiche Fussballspieler, die trotz ihrer geringen Körpergrösse eine grosse Karriere hinlegten: "Wer hätte Philipp Lahm oder Joshua Kimmich eine solche Kariere zugetraut?"
Patrick Folkert, der in Bochum die Beratungsagentur "Yousports" führt, sieht das ähnlich: "Das Erheben von Daten macht meiner Meinung nach grundsätzlich Sinn." So könne man mit diesen Daten zielgerichtet die Leistungsfähigkeit erhöhen. "Wenn der Verein sich zwischen zwei Spielern entscheiden muss, kann der Test eventuell bei der Entscheidung helfen."
Doch es gibt Einschränkungen: "Darüber eine Karriere vorherzusagen, vernachlässigt meiner Meinung nach viel zu sehr den Menschen, der in diesem Körper steckt."
Zwar seien Koordination und Physis wichtige Eckpfeiler. "Jedoch ist die Hauptzentrale unser Gehirn und das kann trainiert werden", sagt Folkert. "Das Umfeld wird in dieser Rechnung auch nicht berücksichtigt. Genauso wenig die Persönlichkeitseigenschaften, die sich speziell in der Jugend in gewissen Bereichen noch verändern. Oft entscheidet auch die mentale Stärke eines Jugendspielers darüber, wie gut er seine genetischen Vorteile ausnutzen kann."
1860-Nachwuchsleiter: Talentprognose ist nicht möglich
Manfred Paula, der den Nachwuchs vom TSV 1860 München leitet, schliesst sogar aus, seine Entscheidungen im Scouting auf Basis einer Software zu treffen: "Eine langfristige valide Talentprognose ist aus meiner Sicht nicht möglich, auch wenn sie sich auf eine noch so umfangreiche Datenbasis stützt, da eine Vielzahl von teilweise unwägbaren Bedingungen miteinander korreliert werden müssen und immer von einem optimalen Verlauf ausgegangen werden müsste."
Und was sagt Spielerberater Jörg Neblung, der früher unter anderem die Nationaltorhüter Timo Hildebrand oder Robert Enke beriet und sich selber als Statistikfreund bezeichnet? Auch er möchte solche Messdaten nicht überbewerten.
"Meiner Meinung nach fehlen dem Computer zu viele Variable, um die Chance auf eine Profikarriere seriös voraussagen zu können. Auf dem Weg zum Profi sind nicht immer messbare Leistungsdaten ausschlaggebend. Möchte ein junger Spieler später professionell Fussball spielen, sind vor allem seine Einstellung und seine Moral entscheidend. Die verändern sich aber mit der Zeit", sagt Neblung.
Und weiter: "Ein Spieler hat mit 15 Jahren vielleicht eine andere Einstellung als mit 20 oder 23. Zudem spielen immer wieder Faktoren wie Belastungsfähigkeit und Verletzungsanfälligkeit eine entscheidende Rolle. Ich bin sicher, dass ein Mix aus menschlicher Erfahrung und messbaren Parametern am Ende die grösste Trefferquote bringt."
Harte Arbeit und Wille schlagen das Talent
Die physischen Voraussetzungen oder die Schnelligkeit seien laut Neblung zwar wichtig. "Ich sehe allerdings die persönliche Entwicklung der Spieler als weitaus wichtiger an", so Neblung. "Im Endeffekt kommt es darauf an, wie sehr diese Spieler Profi werden wollen, ob sie ein Umfeld haben, das sie unterstützt und was sie bereit sind, dafür zu tun. Die Vergangenheit hat schon häufig gezeigt, dass Talent durch harte Arbeit und unbändigen Willen übertrumpft werden kann."
Und wie gross der Wille ist, lässt sich eben nicht per Software bemessen. Daher würde auch Neblung das Programm nicht als alleiniges Entscheidungskriterium nutzen, sondern maximal als weiteres Hilfsmittel.
Fazit: Bei unseren Gesprächspartnern würde das eingangs beschriebene Szenario nicht eintreffen. Woanders aber möglicherweise schon.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Jörg Neblung
- Interview mit Manfred Paula
- Interview mit Oliver Lehmann
- Interview mit Patrick Folkert
- Tagesspiegel.de: Karriere nach Mass
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.