Vor 20 Jahren feierte Ailton seine Sternstunde mit Werder Bremen. Nun hat der ehemalige Stürmer ein Buch über seine Karriere geschrieben. Unsere Redaktion sprach mit dem 51-Jährigen über seinen Spitznamen und die schwierige Eingewöhnungszeit in Deutschland unter seinem damaligen Trainer Felix Magath.
Werder-Legende
Ailton, Sie erzählen in Ihrem Buch Ihr persönliches "Fussballmärchen" und erinnern direkt auf den ersten Seiten an Ihre grosse Sternstunde vor 20 Jahren mit Werder Bremen. Was war das Erfolgsgeheimnis der Meisterelf von 2004?
Ailton: Werder Bremen hatte ein bisschen Glück, denn Ailton war dabei (lacht). Spass beiseite: Es war einfach eine tolle Mannschaft mit einem guten Charakter. Wir waren wie eine Familie. Und natürlich hatten wir sehr gute Fussballer in unseren Reihen, wie Johan Micoud, Ivan Klasnic, Frank Baumann oder Ümit Davala. Der wichtigste Faktor aber war die Stimmung innerhalb der Gruppe. Über die gesamte Saison hinweg gab es keinen Stress, es herrschte immer eine gute Harmonie – sowohl auf dem Platz als auch in der Kabine.
Grundsätzlich gilt: "Ailton auswechseln – immer Fehler!" Hat sich der damalige Werder-Trainer Thomas Schaaf an diese Maxime gehalten?
Ich weiss, dass ich das mal gesagt habe. Dieser Spruch entspricht meinem Temperament: Ich will immer spielen. Thomas Schaaf wusste das genau. Er wusste aber auch, dass hinter mir super Stürmer wie Nelson Valdez oder Angelos Charisteas standen. Auch wenn jeder Spieler mal eine Pause braucht, war es für mich immer etwas schwer zu akzeptieren, wenn ich ausgewechselt wurde. Ich habe aber alle meine Mitspieler akzeptiert – und sie haben mich mit meiner brasilianischen Mentalität akzeptiert. Das hat sehr gut funktioniert.
Wie viel wussten Sie über den deutschen Fussball, als Sie 1998 nach Bremen kamen?
Ich stand damals beim mexikanischen Verein UANL Tigres, nördlich von der grossen, wunderschönen Stadt Monterrey gelegen, unter Vertrag. Dann kam ein Angebot aus Deutschland von Werder Bremen. Dazu muss man wissen: Die brasilianischen Fussballfans interessierten sich damals eher für den italienischen Fussball. Auch ich habe früher viele Spiele aus der Serie A gesehen, aus der Bundesliga nur wenige. Wenn Brasilianer im Fernsehen deutschen Fussball verfolgten, dann die Spiele von Bayern München oder Borussia Dortmund. Zum Zeitpunkt des ersten Kontakts mit Werder Bremen hatte ich nur sehr wenige Informationen über diesen Verein.
Ailton erinnert an seine Startschwierigkeiten in Deutschland
Wussten Sie überhaupt, in welcher Liga Werder spielte?
Nein, ich musste mich erst erkundigen, ob Werder Bremen in der ersten oder in der zweiten Liga spielt. Aber jeder brasilianische Fussballer hat einen Traum: in Europa zu spielen. Dennoch fiel mir der Wechsel schwer, weil ich damals in Monterrey sehr zufrieden war. Zumal ich mich informiert und erfahren hatte, dass es in Deutschland sehr kalt und die Sprache sehr schwer ist. Ich gebe zu: Nach meinen ersten Monaten in Deutschland habe ich gesagt, dass der Wechsel ein grosser Fehler war (lacht).
Was störte Sie damals?
Ich kam nur selten zum Einsatz, musste aber sehr viel trainieren – und für mein Empfinden war es wirklich kalt in Deutschland. Ausserdem war meine Familie weit weg. Ich vermisste auch die Fans von Tigres und das Land Mexiko. Ja, die erste Zeit in Deutschland war sehr schwer für mich. Aber später, als Thomas Schaaf Trainer wurde, veränderte sich die Situation komplett. Dann kamen noch
Natürlich mussten Sie zu Beginn viel trainieren, denn Ihr erster Werder-Trainer war
Ich glaube, dass ich als Fussballer für sein System einfach nicht interessant war. Felix Magaths System basierte auf der Defensive. Ailton ist aber ein Stürmer, kein Defensivspieler. Ich habe nur nicht verstanden, warum Werder Bremen so viel Geld in meinen Transfer investiert hatte und der Trainer dieses Vereins nur drei Monate später sagte, dass der "Dicke" sofort weg müsse. Er hätte abwarten und es analysieren müssen. Da er mich nie spielen liess, konnte er ja gar nicht beurteilen, ob es mit mir funktionieren würde oder nicht. Magath war damals noch ein junger Trainer, es war für beide schwer. Aber es kann schon sein, dass es ein grosser Fehler von ihm war. Auch Magath weiss heute, dass ich in Deutschland sehr gut Fussball gespielt habe.
Haben Sie Ihre grosse Karriere in Deutschland vor allem Lemke zu verdanken? Der im vergangenen August verstorbene Ex-Manager hat Ihnen den Rücken gestärkt …
In diesem Moment war Willi Lemke sehr prägend für mich. Er hat sich durchgesetzt und den Fuss auf den Boden geschlagen, wie wir in Brasilien sagen. Lemke hat Magath erklärt, Ailton müsse bleiben, weil er ein guter Spieler sei. Ich habe auch gehört, dass es damals Stress zwischen Magath und dem Präsidium von Werder gab – weil der Trainer wollte, dass ich den Verein verlasse. Der Klub wollte aber genau das Gegenteil. Aus diesem Grund wurde die Situation zwischen Magath und Werder sehr schwierig. Am Schluss wurde der Trainer gekündigt und durch Thomas Schaaf ersetzt. Unter ihm veränderte sich die Situation. Ich bin Willi Lemke und dem damaligen Präsidenten bis heute sehr dankbar. Sie haben an mich geglaubt und waren überzeugt davon, dass ich viel für Werder tun kann. Und genau das ist dann passiert.
Sie räumen in Ihrem Buch mit dem weit verbreiteten Märchen auf, dass viele Brasilianer zu besseren Fussballern wurden, nur weil sie in ihrer Jugend barfuss gespielt hatten. Warum ist das eine Fehleinschätzung?
Ich glaube, dass man schon mit dem Talent, Fussball spielen zu können, auf die Welt kommt. Es gab noch keine Akademien, Fussball wurde draussen auf der Strasse oder auf der Wiese gespielt – ohne Trainer. Das war tausendmal besser (lacht). Ausserdem hatten wir zu meiner Zeit nicht so viele Optionen, um uns in der Freizeit anderweitig zu beschäftigen. Wir hatten kein Internet und auch kein Instagram. Wir hatten nur den Fussball. Aber: Die Fussballschuhe waren damals noch sehr teuer. Für meine Mutter und meinen Vater hatten andere Schuhe Priorität, also musste ich barfuss spielen. Hat mich das zu einem besseren Fussballer werden lassen? Ich glaube nicht. Brasilianer haben den Fussball ganz einfach im Blut.
Kommen denn ausreichend Talente nach?
Momentan hat Brasilien weniger gute Fussballer als früher. Die neue Generation der Zwölf- bis 15-Jährigen verbringt mehr Zeit im Internet als auf dem Fussballplatz. Aber auch in meiner Generation ist das ähnlich. Ich war gerade erst drei Wochen in meinem kleinen Dorf Mogeiro. Leider konnte ich nur einmal Fussball spielen, weil niemand Zeit hatte. Die haben sich lieber eine Netflix-Serie angesehen. Es ist unglaublich.
Wenn es stimmt, dass Brasilien mittlerweile weniger gute Fussballer hervorbringt als früher: Hätten Sie es mit Ihren Qualitäten heute zum Nationalspieler gebracht?
Absolut. Zu 100 Prozent. Wir befinden uns im Jahr 2024. Stellen Sie sich einmal vor, was der Ailton von vor 20 Jahren heute kosten würde. Natürlich wäre ich die Nummer eins in Brasilien. Stürmer wie mich gibt es heute nicht mehr.
Wie viel wäre Ailton heute denn wohl wert?
Puh … ich wäre bestimmt 100 Millionen Euro wert.
Vor diesen drei Bundesliga-Stürmern zieht Ailton seinen Hut
Laut "transfermarkt.de" sind Ihr Landsmann Vinicius Junior und der Norweger
Der Unterschied zu Erling Haaland ist nicht gross. Er ist blond und ein bisschen grösser als ich. Das war's! Aber ich habe mal eine Frage: Wurde Haaland in seinen zweieinhalb Jahren bei Borussia Dortmund jemals Bundesliga-Torschützenkönig?
Nein, Robert Lewandowski stand jedes Mal vor ihm.
Dankeschön. Mit Blick auf die Bundesliga ziehe ich meinen Hut nur vor drei Stürmern: Robert Lewandowski, Harry Kane und Giovane Elber.
Und viele Fans ziehen ihren Hut vor dem Mann, der einst gesagt hat: "Ein Schuss. Ein Tor. Das Ailton." Ist Fussball zu kompliziert geworden?
Ich denke, dass viele Spieler Angst davor haben, aufs Tor zu schiessen. Manchmal frage ich mich, warum sie mit ihrem Abschluss so lange warten. Als ich Profi war, hatte ich immer nur diesen einen Gedanken im Hinterkopf: "Eine Chance – ein Tor!" Denn du weisst nie, ob und wann du eine zweite oder dritte Chance bekommen wirst. Wenn du bei Bayern spielst, kannst du davon ausgehen, dass du in einem Spiel viele Chancen bekommen wirst. Wenn du aber bei Werder Bremen oder einem anderen Klub spielst, ist es etwas anderes. Also bin ich damals vor jedem Spiel zwei, drei Minuten in mich gegangen und habe "mentalisiert", dass ich die erste Chance, die sich ergibt, nutzen muss: "Ailton, eine Chance – ein Tor. Eine Chance – ein Tor." Und wenn es am Ende drei, vier oder fünf Tore geworden sind, hatte ich natürlich auch nichts dagegen.
War der FC Bayern ein Ziel?
Hätten Sie gerne das Bayern-Trikot getragen?
Keine Frage, ich respektiere Bayern München. Viele Spieler haben den Traum, eines Tages bei diesem Verein zu spielen. Ich hatte nie diesen Traum, bei Bayern oder Dortmund zu spielen. Stattdessen habe ich immer lieber bei der Konkurrenz gespielt, zum Beispiel beim BVB-Rivalen Schalke 04.
Mögen Sie es, wenn man Sie mit Ihrem Spitznamen "Kugelblitz" anspricht?
"Kugelblitz" ist mein zweiter Vorname, der passt einfach zu Ailton. Ich war sehr schnell und erzielte viele Tore. Daher: Danke, Deutschland, für diesen Spitznamen! Immer wenn mich in Brasilien jemand mit "Ailton" anspricht, sage ich: "Nicht Ailton, sondern 'Kugelblitz'".
Wie geht es für Sie nach der Veröffentlichung des Buches weiter?
Erst einmal werde ich mein Buch in ganz Deutschland präsentieren. Es ist ein in Erfüllung gegangener Traum. Ich bin allen, die daran beteiligt waren, sehr dankbar. Natürlich werde ich auch weiterhin an TV-Shows teilnehmen (am 09.11. geht Ailton bei der "TV total WOK WM" an den Start; Anm. d. Red.). Zum Fussballspielen bin ich leider zu alt. Schade eigentlich. Aber ich bin momentan, Gott sei Dank, sehr zufrieden und geniesse das Leben mit meiner Familie.
Sie wären aber nicht zu alt, um Fussballtrainer zu werden. Hätten Sie Lust?
Nein, nein. Das Traineramt würde nicht zu mir passen. Aber ich hätte schon Interesse, als Spielerberater zu arbeiten. Schliesslich habe ich die Deutschland-Brasilien-Connection. Vielleicht finde ich ja bald einen neuen "Kugelblitz" in Brasilien und bringe ihn nach Deutschland.
Über den Gesprächspartner
- Ailton ist ein ehemaliger brasilianischer Fussballspieler, der 2004 mit Werder Bremen Deutscher Meister und DFB-Pokalsieger wurde. Im selben Jahr avancierte der "Kugelblitz" mit 28 Toren zum Torschützenkönig in der Bundesliga. Nach seinen sechs Jahren an der Weser wechselte der Stürmer zum FC Schalke 04 – weitere Stationen in Deutschland waren Hamburger SV, MSV Duisburg und KFC Uerdingen. Seine Karriere liess Ailton, der in vielen Ländern wie Mexiko, Türkei, Serbien, Schweiz, Ukraine und China auf Torejagd gegangen war, ab 2009 bei unterklassigen deutschen Vereinen ausklingen.
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