Amazon Prime zeigt erste Ausschnitte aus der Katar-Doku, wie unsere Nationalmannschaft hinter verschlossenen Türen das WM-Desaster 2022 erlebte. Zu sehen: ein aufgebrachter Bundestrainer Hansi Flick, der die Leistungsverweigerung seiner Nationalspieler nicht versteht. Die Bundesliga sollte sich ein Beispiel nehmen.
Die Fassungslosigkeit über das Unvermögen der deutschen Nationalspieler gipfelt in einem Statement des damaligen DFB-Direktors
Bis heute gibt es keine Erklärung, warum die DFB-Truppe zum zweiten Mal in Folge vorzeitig in einer WM-Vorrunde ausschied. Der aktuelle Sportchef
Politisches Feingefühl statt sportlicher Dominanz
Es war halt doch der Streit um die Spielführerbinde, die vom Tagesgeschäft ablenkte und - nach Ansicht des Bundestrainers - Politik und nicht Fussball zur Hauptsache definierte. Zu viele Spieler wollten die Fifa mit ihrem politischen Sendungsbewusstsein überraschen und nicht die Gegenspieler mit ihrem Selbstbewusstsein. Das führte zwangsläufig zum WM-Desaster.
Darin liegt der Benefit, dass die Amazon-Kameras die Verzweiflung hinter den verschlossenen Türen dokumentierten und die Gesichter die Wahrheit erzählen und nicht die Presseabteilung: Am Ende sind es doch die Spieler, die ihr taktisches Verständnis lieber auf Instagram zeigen als auf dem Rasen, lieber ihr politisches Feingefühl demonstrierten als sportliche Dominanz.
Der Trainer ist damit nicht freigesprochen. Seine Fehlgriffe bei der Mannschaftsaufstellung (Füllkrug nicht in der Startelf) und sein mangelhafter Instinkt bei der Quartierwahl (irgendwo im Nirgendwo) sind unentschuldbar. Aber die Amazon-Doku ist pures Gold: Selten wurden Missstände und das Missverständnis zwischen Trainer und Mannschaft schonungsloser offengelegt.
Der DFB ist gezwungen, sich ehrlich zu machen
Wem das hilft: zum einen der Wahrheitsfindung - Fussballfans sehen, wie das Turnier wirklich vergeigt wurde. Zum anderen: Der DFB kommt mit seinen Ablenkungsmanövern, Plattitüden und Durchhalteparolen zur Heim-EM 2024 nicht davon. Die Amazon-Doku, die Anfang September erscheint, zwingt den Verband hoffentlich, sich ehrlich zu machen. Die Defizite sind gross.
Darin liegt für den deutschen Fussball eine grosse Chance. Auch der PayTV-Sender Sky möchte mit seinen TV-Kameras näher ans Produkt. Das heisst im Klartext: näher zu den Protagonisten, zu den Spielern - in der Kabine, in der Halbzeitpause, beim Training, ungefiltert und damit echt. Der Aufschrei aus der Bundesliga wird nicht lange auf sich warten lassen.
Widerstand wird nur wenig helfen. Sky Deutschland möchte Bundesliga-Sender Nummer 1 bleiben und geht voller Selbstbewusstsein in die TV-Ausschreibung im Frühjahr. Seit Jahrzehnten rollt der Ball beim Bezahlsender, die Budgets der 36 Erst- und Zweitligisten sind abhängig von den Sky-Millionen. Da kann man schon mal Forderungen stellen.
Sky-Sportchef Charly Claasen: "Müssen näher ans Spiel und an die Spieler herankommen"
Sowas schmerzt. Die Umkleidekabine ist das vermutlich letzte Rückzugsgebiet eines Trainers. Hier kann er ungebremst zu seinen Spielern reden, wie man es aus Pressekonferenzen nicht mehr kennt. Hier könnte man live erleben, wie er die Mannschaft gewinnt oder verliert. Szenen aus dem Allerheiligsten wären spannend wie das Spiel selbst. Siehe
Dabei könnte der Bundesliga nichts Besseres passieren als ein Blick, wie der deutsche Profifussball wirklich funktioniert. Was die Zuschauer bisher vorgesetzt bekommen, ist was Künstliches: inszenierte Interviews vor und nach den Spielen, bemitleidenswerte Berichterstattung in der Klubmedien, heile Welt halt. Das halt, was man an der Nationalelf seit Jahren kritisiert.
Der Bundesliga-Fussball ist aber rau und gnadenlos, überraschend menschelnd und eben nicht nur Glamour, sondern harte Arbeit, viel Stress, eine Berg- und Talfahrt ins Ungewisse, Woche für Woche. Glanztaten und Fehlleistungen auf dem Rasen würde man viel besser verstehen, wenn man den Weg dorthin kennen würde. Der Verweis auf die Amazon-Doku: unvermeidbar.
TV-Kameras in der Umkleide: Positiv-Beispiele zeigen, wie es gehen kann
Und es gibt weitere gute Beispiele. Bestseller-Autor Christoph Biermann begleitete den 1. FC Union Berlin im ersten Bundesliga-Jahr und vermittelte in seinem Buch "Wir werden ewig leben" hautnah, wie Trainer Urs Fischer die Mannschaft durch kleine und grosse Krisen steuerte. Geschadet hat's nicht: Union schaffte den Klassenerhalt.
Eindrücklich auch die Amazon-Doku "Behind the legend", in der Bayern München den Kameras alle Türen öffnete, auch die zur Umkleidekabine, als Hansi Flick, damals noch erfolgreicher Vereinstrainer, seinen Spielern nach sechs Titeln den Abschied von der Säbener Strasse ankündigt. Sowas wirft einen komplett neuen Blick aufs Fussballgeschäft.
Soll man TV-Kameras also die Intimsphäre einer Fussballmannschaft ausleuchten lassen? In den US-Profiligen ist das gang und gäbe: Nach 15 Minuten Abkühlphase finden die Interviews mit den Akteuren vorm Spind statt. Es gibt klare Regeln, kaum Klagen, alle bleiben professionell. Vielleicht käme es in der Bundesliga auf einen Versuch an.
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