• Der VfL Wolfsburg scheidet aus der Champions League aus, schenkt dem deutschen Frauenfussball aber eine wichtige Erkenntnis.
  • Auch in Deutschland ist viel möglich, wenn die richtigen Entscheidungen getroffen werden.
  • Sportlich konnte sich der VfL mit einem 2:0-Sieg gegen den FC Barcelona rehabilitieren.
Eine Analyse

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Wovon lebt der Fussball eigentlich am meisten? Es ist eine philosophische Frage, die nicht nur eine Antwort kennt. Grossen Konsens würde wahrscheinlich die Antwort erzeugen, dass er von und durch die Fans lebt. Von seinen Geschichten, die er erzählt und von einer niedrigen Schwelle, die alle überschreiten können, um ein besonderes Gemeinschaftsgefühl zu erleben.

Letzteres ist in den vergangenen Jahrzehnten zumindest im Männerfussball Stück für Stück seltener geworden. Es ist ein tiefer Riss zwischen jenen entstanden, die es als Weiterentwicklung begreifen und jenen, die sich abgehängt fühlen, die sich ein einfaches Ticket oder die notwendigen Abonnements für einen Streaming- oder TV-Zugang nicht mehr leisten wollen oder gar können.

Noch spürt der Fussball diesen Riss nicht so sehr. Weil es genug Menschen gibt, die diese Entwicklung weiter mittragen. Und doch hat er viel von der Nahbarkeit verloren, die ihn einst so besonders machte: Seine gesellschaftliche Bindekraft.

1. Frauenfussball wirkt: Wolfsburg schenkt dem Fussball einen tollen Abend

Ausgerechnet ein Abend in Wolfsburg liess dieses immer mehr verloren gegangene Gefühl erst kürzlich wieder aufleben. Knapp über 22.000 Menschen waren gekommen, um das Frauenteam des VfL zum Wunder vom Mittellandkanal zu tragen. Es sollte nicht klappen.

Die Wölfinnen gewannen das Spiel zwar mit 2:0, doch sie schieden wegen einer deutlichen 1:5-Niederlage im Hinspiel aus der Champions League aus – immerhin aber im Halbfinale und gegen den FC Barcelona, das aktuell stärkste Team der Welt.

Das Ergebnis aber war zweitrangig. Wichtig war die Symbiose zwischen den Zuschauerinnen und Zuschauern sowie den Spielerinnen auf dem Platz. Es war eine ausgezeichnete Atmosphäre, in der kein Platz für Pessimismus, Zynismus oder gar Hass war.

Nach dem Spiel, als die Wolfsburgerinnen sich beim Publikum mit einer langen Stadionrunde bedankten, applaudierten sogar die rund 50 mitgereisten Barca-Fans. Fussball kann einen verbinden. Er kann auch inspirieren und Vorbild sein.

Fussball als Abbild der Gesellschaft: Frauen werden sichtbar

Viele junge Mädchen hatten den Weg in die Volkswagen Arena gefunden. Der jüngste Aufstieg des Frauenfussballs in Europa zeigt ihnen, dass dieser Sport nicht den Männern gehört. Fragt man Bayerns Kapitänin nach ihrem Vorbild, antwortet sie Lionel Messi. Sie ist in einer Gesellschaft mit dem Fussball sozialisiert worden, die in überwiegenden Teilen nur den Männerfussball kannte.

Bei der aktuellen Entwicklung besteht die Chance, dass Profi-Fussballerinnen in zehn Jahren auf diese Frage mit Alexia Putellas antworten. Oder eben mit Lina Magull, Almuth Schult, vielleicht ja sogar Tabea Wassmuth, die kurz nach der Halbzeitpause für den ersten Jubelsturm sorgte.

Sichtbarkeit ist vielleicht das grösste Thema im Frauenfussball. Die jungen Mädchen im Stadion haben gesehen, was möglich ist, wenn sie an sich glauben. Sie sehen, dass Frauen sich in einer nach wie vor von Männern dominierten Domäne durchboxen. Sie entwickeln automatisch eine stärke Bindung, können sich damit identifizieren und sehen sich repräsentiert.

Der Frauenfussball schreibt seine eigene Geschichte

Wolfsburgs Trainer Tommy Stroot erinnerte sich auf der Pressekonferenz nach dem Spiel an das erste Telefonat mit Wassmuth, "wo sie selbst noch unsicher war, ob dieser Schritt der richtige ist und ob sie es wirklich schafft. Ich glaube, sie hat ganz, ganz vielen Leuten gezeigt, wie weit sie es noch schaffen kann."

Der Frauenfussball ist gerade dabei, im grossen und gesellschaftlichen Kontext seine eigene Geschichte zu schreiben. Mit vielen kleinen Kapiteln wie jenem von Wassmuth. Vor allem aber mit einer Anziehungskraft für ein junges Publikum, die sich in den kommenden Jahren noch verstärken wird.

Abende wie jener in Wolfsburg, mit 22.000 Menschen auf den Rängen und einem hochklassigen Spiel auf dem Platz, werden vorerst die Ausnahme bleiben. Doch sie werden in immer regelmässigeren Abständen kommen. Der Entwicklungsprozess ist längst angestossen. Und er ist in seiner Bedeutung für die Gesellschaft kaum zu überschätzen.

Zitat der Woche

"Es macht Spass zu sehen, dass sich in Deutschland doch etwas entwickelt. Ich hoffe, dass wir mit unserer Spielweise den einen oder anderen davon überzeugen konnten, vielleicht auch demnächst nochmal zu kommen. Wir sind sehr dankbar und freuen uns, dass wir so unterstützt wurden." – Tabea Wassmuth auf der Pressekonferenz nach dem Spiel

2. DFB aufgepasst: Auch Deutschland kann grosse Bühne

Dass diese Atmosphäre möglich war, ist die Folge einer konsequenten Aufwertung der Champions League durch die UEFA. Der Frauenfussball hat ein Rahmenprogramm erhalten, das ihm gerecht wird. Die eigene Hymne mit Gänsehautpotenzial als kleines Detail, die grossen Stadien als Zeichen der Anerkennung und Anstosszeiten, die es vielen Menschen ermöglichen, die Spiele zu sehen.

Hinzu kommen günstige Ticketpreise sowie die Möglichkeit, die Spiele trotz eines Pay-TV-Anbieters kostenlos bei YouTube zu sehen. Die UEFA und DAZN haben hier gemeinsam dafür gesorgt, dass die Champions League der Frauen Quantensprünge in der Entwicklung vollzogen hat.

Obwohl am Nachmittag und Abend die Bundesliga der Männer stattfand, konnte der VfL Wolfsburg seinen bisherigen Heimrekord von rund 14.000 Zuschauerinnen und Zuschauern pulverisieren. Der DFB sollte genau hinsehen und daraus lernen.

Die Bundesliga der Frauen wird derzeit zu grossen Teilen bei einem Pay-TV-Anbieter versteckt, den viele Fussball-Fans in Deutschland gar nicht nutzen. Hinzu kommen schlechte Anstosszeiten und nicht wirklich sichtbarer Marketingaufwand. Auch Deutschland kann die grosse Bühne. Das hat Wolfsburg bewiesen. Viel wird davon abhängen, ob der DFB bereit ist, progressiver und mutiger zu denken.

Spielerin der Woche: Sveindis Jane Jonsdottir

"Tabea Wassmuth war schon einige Male als ‚Player of the match’ auf dem Podium, heute hat sich die UEFA für eine Spielerin des FC Barcelona entschieden", sagte Wolfsburgs Medienchef Dirk Zilles auf der Pressekonferenz: "Ich gratuliere natürlich sportlich fair, aber das Ergebnis ist bekannt." Diesen kleinen Seitenhieb konnte er sich mit einem Augenzwinkern nicht verkneifen.

Tatsächlich hätte eine Wolfsburgerin diesen kleinen Award verdient. Wegen einer starken Teamleistung kamen gleich mehrere infrage. Eine von ihnen: Die erst 20-jährige Sveindis Jane Jonsdottir. Sowohl gegen den Ball als auch mit dem Ball belebte die Isländerin das Spiel der Wölfinnen vor allem in der zweiten Halbzeit mit viel Engagement.

3. Wolfsburg rehabilitiert sich auch sportlich

Die grosse Frage nach der 1:5-Niederlage im Hinspiel war, ob Wolfsburg im Rückspiel ein anderes Gesicht zeigen und sich damit rehabilitieren kann. Die Antwort: Ja – zumindest zu grossen Teilen. Das Team von Tommy Stroot hat sich nicht nur im Vergleich zur deutlichen Niederlage, sondern auch innerhalb der 90 Minuten im Rückspiel gesteigert.

"Ich hätte gern erlebt, was passiert wäre, wenn wir noch das dritte Tor machen”, sagte Wolfsburgs Trainer anschliessend. Im ersten Durchgang sah es dabei noch so aus, als würde das 1:0 für Barca nur eine Frage der Zeit sein. Die technische Überlegenheit der Katalaninnen war auch diesmal frappierend. Kaum ein Ball fand nicht die Mitspielerin, vor allem die vielen Seitenverlagerungen machten Wolfsburg zu schaffen.

Dann aber fiel im zweiten Durchgang das 1:0 und mit diesem Tor schien das Selbstvertrauen bei Wolfsburg zu wachsen. Plötzlich gingen sie von der Bremse und liefen nicht nur mutig, sondern auch konsequent an. Es ist vielleicht die grosse sportliche Erkenntnis des Abends, dass auch der FC Barcelona, zuvor noch ohne Saisonniederlage, nervös werden kann.

Ein grosser Abend ohne Happy End

"Wir mussten in diesem Spiel einen gewissen Glauben zurückfinden”, analysierte Stroot anschliessend den holprigen Start ins Spiel: "Weil wir wissen, dass wir im Hinspiel keine Kontrolle hatten. Von daher war die erste Halbzeit erstmal die Basis für die mutige zweite Halbzeit.”

Das Quäntchen Glück war diesmal auf der Seite des VfL – bis auf einen entscheidenden Aspekt. In der Schlussphase wollte das 3:0 nicht glücken. Es wäre die Kirsche auf einem sensationellen Fussballabend gewesen, zu erleben, wie das Spiel ausgegangen wäre, wenn Wolfsburg eine der Gelegenheiten rund um die 80. Minute genutzt hätte.

Doch das blieb dem Publikum verwehrt. Über alle vier Halbzeiten gesehen hat sich der FC Barcelona den Einzug ins Finale auch verdient. Wolfsburg, das ist bei aller berechtigten Positivität auch ein Fakt, fehlt auf allen Ebenen mindestens ein bisschen was, um mit diesem Team mithalten zu können. Und doch konnten sie beweisen, dass sie deutlich mehr können als sie im Camp Nou vor einer Woche gezeigt haben.

So geht es jetzt weiter

Der FC Barcelona wird im Champions-League-Finale am 22. Mai auf Olympique Lyon treffen. Es ist das Duell der neuen mit der vermeintlich alten Supermacht und verspricht hochklassig zu werden.

In der Bundesliga stehen folgende Partien an:

  • Essen - Wolfsburg (Mittwoch, 19.15 Uhr, MagentaSport)
  • Leverkusen - Bayern (Freitag, 19.15 Uhr, Eurosport, MagentaSport)
  • Potsdam - Frankfurt (Samstag, 14.00 Uhr, rbb, MagentaSport)
  • Freiburg - Essen (Sonntag, 13.00 Uhr, MagentaSport)
  • Sand - Köln (Sonntag, 13.00 Uhr, MagentaSport)
  • Jena - Wolfsburg (Sonntag, 16.00 Uhr, MagentaSport)
  • Bremen - Hoffenheim (Sonntag, 16.00 Uhr, MagentaSport)
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