Arturo Vidal hat den FC Bayern gegen Benfica Lissabon fast im Alleingang ins Halbfinale der Champions League geschossen. Der Chilene ist mittlerweile voll in München angekommen: omnipräsent, hungrig auf Erfolg und jederzeit gefährlich für den Gegner.
Nun streiten sich die Gelehrten, ob
Vidals Tor hat die Luft aus dem Kessel entweichen lassen, er hat den Druck weggenommen von seiner Mannschaft und aus dem Vergleich mit Portugals Rekordmeister. In der 38. Minute hat er einen Ball ins leere Tor geschossen. Das wird man ja wohl erwarten können von einem Profi, der seit anderthalb Jahrzehnten nichts anderes macht als eben solche Dinge zu üben. Das sagen die einen.
Der abgewehrte Ball kam aber schwierig auf Vidal zu, mit leichtem Ausseneffet. Der Chilene musste seinen Körper einknicken, um die richtige Position zu finden und mit dem so genannten schwächeren linken Fuss volley abziehen. Das alte Motto "Präzision vor Wucht" spielte in seinen Überlegungen dabei offenbar keine Rolle, Vidal knallte den Ball feurig und sorgfältig zugleich ins Lissaboner Tor.
"Der Schuss war nicht einfach, ein Wahnsinns-Tor", stellte sich sein Trainer
Arturo Vidal: offensiv und defensiv stark
In Abwesenheit von
Insgesamt fünf Mal schoss er aufs gegnerische Tor, am Ende gab er damit jeden dritten Bayern-Torschuss ab und so viele, wie Benficas komplette Angriffsreihe zusammen.
In der Defensive war er der Rädelsführer von Bayerns Gegenpressing, er gab die Signale zum Attackieren, blockte Schüsse, unterband die Angriffsstruktur des Gegners. Wem bis jetzt immer noch nicht klar war, warum die Bayern einen grossen Teil ihrer fast 90 Millionen Euro Transferausgaben im letzten Sommer in Vidal gesteckt hatten, der sollte nun etwas klarer sehen.
"Arturo ist extrem wichtig für uns, insbesondere in solchen grossen Spielen", sagt Guardiola noch und wiederholte damit seine Aussage von der Vorwoche, als er Vidal fast wortgleich lobte. Im Hinspiel hatte der Chilene bereits die Partie mit einem Tor entschieden und war auch da einer der besten Bayern-Spieler auf dem Feld.
Gegen Juventus war es seine Balleroberung vor dem gegnerischen Tor, die erst den Last-Minute-Ausgleich durch Thomas Müller ermöglichte und letztlich auch das Happy-End. Vidal ist der neue Chef bei den Bayern, gerade in den grossen Spielen.
Störfeuer ausserhalb des Platzes
In der Hinrunde wirkte er nicht immer austrainiert, fand nur schleppend die nötige Bindung zu seinen Mannschaftskollegen, sowohl auf als auch ausserhalb des Platzes. Vidal spielte für seine Verhältnisse - bei seinem vorherigen Arbeitgeber Juventus war er ein unumstrittener Schlüsselspieler - eine magere Halbserie.
Dann gab es im Wintertrainingslager Wirbel um ihn, er sei angeblich wiederholt nachts unterwegs und dann alkoholisiert zum Training erschienen. Ausserdem sei er womöglich der "Maulwurf" gewesen, der Interna an die Presse weitergeleitet habe, unter anderem Guardilolas Vorwürfe an einzelne Spieler übergewichtig zu sein.
Das alles passte wie angegossen ins Bild des rüpelhaften Flegels, das er sich in den Jahren davor durch zahlreiche Eskapaden unfreiwillig aufgebaut hatte. Einst war er wegen einer durchzechte Nacht aus Chiles Nationalmannschaft geflogen, in Turin soll er eine Schlägerei in einer Diskothek angezettelt haben und im Sommer fuhr er betrunken seinen Ferrari zu Schrott - während der Copa America.
Der Hunger nach Erfolg
Das sind schöne Geschichten für den Boulevard, sie werden dem Spieler Arturo Vidal aber kaum gerecht. Längst ist er in Bayerns Mittelfeld zu dem Fixpunkt geworden, der Xabi Alonso offenbar nicht mehr sein kann. Thiago Alcantara spielt hübsch, nett, ein bisschen für die Galerie und manchmal auch einen fabelhaft tödlichen Pass - aber nicht so, dass er eine permanente Gefahr für den Gegner darstellt, ob mit oder ohne Ball. Vidal ist anders, er ist derzeit omnipräsent.
"Arturo spielt eine überragende Rückrunde. Er hat diese gewisse Irrationalität in seinem Spiel, die uns sehr gut tut. Er ist Gold wert in der Balleroberung und im Abschluss", sagt Sportvorstand Matthias Sammer.
Er habe immer wieder jenes Bild vor Augen aus dem letzten Mai, sagt Vidal: Wie er nach dem verlorenen Champions-League-Finale mit Juventus gegen den FC Barcelona am Henkelpott vorbeischleichen musste. So nah dran und doch so weit davon entfernt. "Das schlimmste Gefühl meiner Karriere."
"Ein einzigartiger Spielertyp"
Mit den Bayern soll es diese Saison anders enden. "Ich brauchte in der Hinrunde etwas Zeit, mich an alles zu gewöhnen, an die Spielweise dieser starken Mannschaft. Es war nicht einfach für mich. Nun versuche ich zu zeigen, dass ich jetzt Spass am Spiel habe und dass ich Lust habe, Titel zu gewinnen. Ich mache alles, um der Mannschaft zu helfen und unsere Ziele zu erreichen."
Juventus und Barca sind schon raus, "sorry, aber wir sind immer noch da", sagt Pep Guardiola. Vor allen Dingen auch dank Arturo Vidal. Der dreht in der heissen Schlussphase der Saison derzeit voll auf - und hat das eine oder andere Mal auch ein Quäntchen Glück. Gegen Stuttgart stand er nach einer halben Stunde vor einem Platzverweis, also musste ihn sein Trainer auswechseln.
In Lissabon grätschte er, als im Prinzip alles schon entscheiden war, nochmals beherzt in den Gegenspieler. Keine besonders schlaue Aktion, weshalb Vidal sofort auf Schiedsrichter Kuipers zuging und bettelte. Der Niederländer liess tatsächlich Gnade vor Recht walten. Zum Dank gab es eine dicke Umarmung von Vidal. Es wäre eigentlich seine dritte gelbe Karte gewesen und er damit für das Halbfinal-Hinspiel gesperrt.
Die Geschichten vom bösen Buben wären wieder hervorgekramt worden und die Mär, dass er seine Nerven nicht im Griff hätte. Das stimmt so aber nicht. Ganze zwei gelbe Karten hat Vidal in der Bundesliga kassiert, ebenso viele in der Champions League. Er begeht im Schnitt weniger drei Fouls pro Spiel. Das alles passt nicht zu dem, was über ihn erzählt wird.
Aber vielleicht das: "Er ist für alle Beteiligten unberechenbar, ein einzigartiger Spielertyp", sagt Matthias Sammer. Und das gilt in jeglicher Hinsicht.
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