Die Bayern ziehen Atlético Madrid und sehen sich in ihren Befürchtungen bestätigt: Es könnte ziemlich anstrengend und hässlich werden. Auf den FCB wartet die beste Defensive der Champions League, eine Mannschaft mit einer ungeheuren Mentalität und El Cholo, ein Trainer der ganz besonderen Art
Jetzt ist es doch passiert: Der FC Bayern bekommt es im Halbfinale der Champions League mit jener Mannschaft zu tun, die angeblich keiner als Gegner haben wollte. Atlético Madrid ist der Mannschaft gewordene Alptraum aller Ästheten, der Klotz am Bein des schönen Spiels. Aber wo steht eigentlich geschrieben, dass nur wer schön spielt auch erfolgreich sein darf?
Atlético schert sich einen Dreck darum, was die anderen denken. Seit Trainer Diego Simeone den darbenden Klub vor einigen Jahren wachgeküsst hat, gelten Los Rojiblancos auf internationaler Ebene als Inbegriff des zerstörerischen Spiels, wie eine Bande räudiger Strassenköter, die dem Establishment das Fürchten lehrt.
Atlético ist im Konzert der Grosskopferten die kleinste Nummer. Der Klub wird immer im Schatten des grossen Real Madrid bleiben, er spielt im Vicente Calderon, einer alten, versifften Schüssel aus brüchigem Mauerwerk und dem Mief längst verblichener Tage.
Die hungrigste aller Mannschaften
Die Mannschaft ist eine Ansammlung von Talenten und Aussortierten. Spieler von Weltformat, wie sie Manchester City, Real oder die Bayern in ihren Reihen wissen, sucht man vergebens. Das Kollektiv überstrahlt alles.
Spieler wie Abwehrchef Diego Godin, Kapitän und Klub-Institution Gabi oder der ewige Koke sind keine Grosskaliber des europäischen Fussballs.
Aber sie sind der Kitt dieser Mannschaft, die ein überschaubares individuelles Niveau als Mannschaft auf ein Weltformat heben kann, auf das Beste, was man im Defensivverhalten nicht erst seit den beiden Spielen gegen den FC Barcelona beobachten kann.
Atlético spielt sich minimalistisch durch die Reihen. Vor zwei Jahren, als der Klub erstmals nach 18 Jahren wieder spanischer Meister wurde, begann die wundersame Wandlung vom immer mal wieder spektakulären Stil hin zu einer nicht gekannten Nüchternheit und gesunder Härte, immer mal wieder wandelnd am Rande der Legalität.
Damals wurde Atlético in einer Liga, die das Diktat des Toreschiessens über alles erhebt mit seinen Top-Klubs Real und Barca, zur Antithese des spanischen Fussballs.
26 Gegentore in 38 Spielen machten Atlético zum Meister, in der Königsklasse fehlten im Finale gegen Real nur Sekunden zum Gewinn des Henkelpotts. Diese Nacht von Lissabon, als Atlético zum zweiten Mal in seiner Klubgeschichte nur einen Hauch entfernt war vom grossen Wurf, ist seither der Antrieb und Schwung für neue Schandtaten.
Simeones Mannschaft ist so hungrig wie keine andere, das macht sie so gefährlich. Der unbändige Wille lässt Atlético Schlachten wie zuletzt zweimal gegen Barca überstehen und danach hat man sogar das Gefühl, dass das Weiterkommen völlig in Ordnung geht - auch wenn so ziemlich jede Statistik gegen Madrid spricht. Was Atlético dem Gegner defensiv anbietet ist nichts weniger als die dickste Mauer der Welt.
Perfektes (Abwehr-)Pressing
Atléticos Pressing ist - nicht nur im Abwehrpressing um den eigenen Strafraum - mit das beste, was man sich vorstellen kann. Im Rückspiel gegen Barca gab es diese eine Erkenntnis, dass Barcelonas Innenverteidiger Mascherano 19-mal den Ball zurück zu seinem Torhüter Ter Stegen spielen musste - es aber weder zwischen Neymar und Messi, noch zwischen Messi und Suarez dieses Passmuster so häufig gab.
Und dass Ter Stegen dann nur halblange Bälle in den ungefährlichen Seitenräume spielen konnte, weil Atlético die Halbräume und das Zentrum schlau aufgerückt sofort schliessen konnte.
Dazu kommt eine ungeheure Mentalität. Jeder einzelne Spieler bis hinauf zur Nummer 25 im Kader würde für Simeone alles geben. Zur Not auch mit unfairen Mitteln: In den Viertelfinals gegen Barca sammelten Atléticos Spieler neun Gelbe und eine Gelb-Rote Karte.
Bis zum letzten Tropfen verteidigt Atlético sein Tor, in 19 Champions-League-Spielen seit Herbst 2014 hat das Team erst unfassbare sieben Gegentore und hielt dabei 14-mal die Null.
Und vorne? Helfen Antoine Griezmann, so etwas wie ein kommender Superstar, und der alte Fernando Torres. Oder zur Not ein Abwehrspieler nach einem Standard. Atlético benötigt nicht viele Chancen, um zum Torerfolg zu kommen, die Mannschaft erkennt die Lücken im Defensivspiel des Gegners schnell und ist in der Lage, diese zu nutzen. Ein Darmstadt 98 auf Weltniveau.
Blitzschnelles Umschaltspiel
Besonders im Umschalten nach Ballgewinn geht es flugs nach vorne und zum Abschluss. Eine Sache, mit der die Bayern unter
"Atlético hat eine Mannschaft mit einer ganz bestimmten Qualität und Mentalität. Und vor allem: Sie haben mit Barcelona das beste Team der letzten Jahre ausgeschaltet", sagt Pep Guardiola. Die Trainer, Simeone und Guardiola, werden ganz entscheidende Faktoren im Vergleich der beiden Mannschaften sein.
Selbst der Coach kann den Unterschied machen.
Simeone, El Cholo, ein etwas abwertender Begriff für Menschen mit indigener Abstammung, der frei übersetzt so etwas wie "Motor" oder Antrieb" heissen kann, weiss nicht nur zu polarisieren. Er kann ein ganzes Stadion zum Abheben bringen mit seinem Gefuchtel an der Seitenlinie.
Dagegen nehmen sich Guardiolas Interventionen geradezu lammfromm aus. Aber der Katalane hat eben auch den Vorteil, dass er den Gegner und dessen Spiel bestens kennt.
Guardiola dürfte wissen, was die Bayern gegen Atlético erwartet. Umgekehrt kennt Atlético zwar die Spieler, hat aber kein Gefühl dafür, wie die Bayern als Mannschaft funktionieren.
Atlético gefällt sich ausnehmend gut in der Rolle des Underdogs, mit diesem kultivierten Makel lässt es sich aus Sicht der Rojiblancos ganz gut leben im Konzert der Grossen. Aber von einem Aussenseiter kann man schon lange nicht mehr sprechen.
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