Der Deutsche Fussball-Bund geht auch in Sachen Big Data endlich neue Wege. Mit den sogenannten Hackathons sollen neue Kennzahlen erfasst und für die Entwicklung des Spiels nutzbar werden.

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Die Coronakrise rückt derzeit Veranstaltungen in den Fokus, die bisher eher ein Schattendasein fristeten. In sogenannten Hackathons gehen Experten, Datenwissenschaftler, alte und junge Hacker, Mentoren und Tutoren verschiedenen Fragestellungen nach - im Corona-Fall unter anderem mit der Vorgabe, aus einem Wust an Daten konkrete Erkenntnisse zu gewinnen, die unser Leben wieder verbessern könnten.

Seit rund 20 Jahren werden Hackathons, der Begriff setzt sich aus den Worten "Hack" und "Marathon" zusammen, durchgeführt. Im Fussballsektor sind diese problemlösenden Veranstaltungen aber noch eine eher neue Gattung.

Der Fussball - kämpfen, rennen, beissen, geht's raus und spuits Fussball - emanzipiert sich immer schneller von seinem alten Ich und ist auch beim grossen Deutschen Fussball-Bund endlich auf dem Weg in eine neue Epoche.

Hackathon: Weiterentwicklung der Spielanalyse

Der DFB befindet sich ja derzeit in einem fulminanten Wandel, im Zuge der Neuausrichtung des Verbands wird dabei in alle Richtungen gedacht und so war es keine grosse Überraschung mehr, dass im letzten Herbst der erste Hackathon über die Bühne ging.

Im Rahmen des EM-Qualifikationsspiels der deutschen Nationalmannschaft gegen die Niederlande in Hamburg trafen sich Spezialisten aus beiden Ländern, um anhand von Trackingdaten gewisse Metriken herauszufinden und zu entwickeln, die spielentscheidend waren.

Sie arbeiteten einen Tag und eine Nacht lang durch - für Power-Naps wurden extra Feldbetten errichtet -, zerlegten das Spiel in seine Einzelteile, betrachteten es aus verschiedenen Blickwinkeln, um dann im besten Fall einen Zugewinn an Erkenntnissen zu erlangen.

In Hamburg hat das offenbar ganz hervorragend funktioniert, anders als auf dem grünen Rasen gewann das 16-köpfige deutsche Team gegen das der Niederlande. Seit Februar läuft der zweite Hackathon, der eigentlich wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf die EM in diesem Sommer hätte liefern sollen.

Anhand von rund 60 Spielen der Frankfurter Eintracht, angefangen von der Saison 2017/2018 bis zum Ende der aktuellen Saison, sollten die Teams in Zusammenarbeit mit der DFB-Tochter "Sportec Solutions" konkrete Ergebnisse für die Weiterentwicklung der datenbasierten Spielanalyse erzielen.

Antworten finden für komplexe Fragen

Was etwas sperrig klingt, verfolgt im Grunde ein recht einfaches Ziel. Die Schnittstelle zwischen Praxis und Theorie ist eine Schwachstelle im System. Um diese besser zu verstehen, fügen sich Spezialisten aus beiden Welten, Spielanalysten auf der einen und Mathematiker oder Informatiker auf der anderen Seite, zu kleinen Teams zusammen, die dann jeweils einer konkreten Aufgabenstellung hinterhergehen.

In Hamburg waren dies zum Beispiel fünf klare Arbeitsaufträge, unterteilt in die fünf grossen Phasen eines Fussballspiels: Das Spiel mit dem Ball, das Spiel gegen den Ball, das Verhalten nach einem Ballgewinn und jenes nach einem Ballverlust und als Spezialdisziplin noch die Standardsituationen.

"Im Grunde geht es immer darum, neue Kennzahlen zu den bisher bekannten zu entwickeln", sagt Markus Brunnschneider. Der 29-Jährige ist am Internationalen Fussball Institut in Ismaning bei München für den Bereich "Spiel- und Taktikanalyse, Kaderplanung und Scouting" verantwortlich und ein Hackathon-Teilnehmer der ersten Stunde. Er war in Hamburg, natürlich, Mitglied des deutschen Teams.

Es geht um neue Schlüsselindikatoren

Konkret ist zum Beispiel der Ballbesitz als Kennzahl in mancher Hinsicht längst überholt, nachweislich jedenfalls kein direkter Faktor mehr für sportlichen Erfolg. Also müssen neue sogenannte Schlüsselindikatoren her.

Das Packing ist einer davon, die Formel hat es vor ein paar Jahren sogar in die Berichterstattung öffentlich-rechtlicher Medien geschafft. Im Rahmen des Deutschland-Niederlande-Spiels arbeiteten Zweierteams aus Spielanalysten und Daten-Scientists etwa einen abgewandelten Packingwert heraus, der eine neue Facette liefert.

Konkret ging es nicht mehr (nur) um die Passqualität und wie viele gegnerische Spieler durch ein Zuspiel aus dem Spiel genommen, also überspielt, also "gepackt", wurden. Sondern um die Qualität des Passempfängers.

"Overrun players" lautete der Unterpunkt, der besagte, wie viele Gegenspieler durch einen Tiefenlauf eines Mitspielers vor dem Pass und nach der Ballannahme überspielt wurden. Die Bewertung dieser sehr dynamischen Spielsituationen erfolgte wie alle anderen auch: Der Spielanalyst gibt seine Expertise ab, aus der sich eine Fragestellung generiert, der Daten-Experte baut ein Konstrukt aus Zahlen und Algorithmen nach.

Man muss sich das wohl so vorstellen wie einen Trichter, in den alle Informationen oben reingeworfen, dann synchronisiert werden und am Ende werden verschiedene Parameter zueinandergefügt. Am Ende steht dann im besten Fall die Erkenntnis, welcher Lauf eines Angreifers nun denn wirklich ein (entscheidendes) Loch in die gegnerische Defensive gerissen hat.

Aus Big Data wird Smart Data

"Es geht dabei immer nur und ausschliesslich um die Spieler", ist Brunnschneider in dem Zusammenhang besonders wichtig zu betonen. Es geht nicht um Spielereien, Selbstverwirklichung oder gar -beweihräucherung der Experten. Es geht um die Verschmelzung neuer Bereiche, "deep learning" und maschinelles Lernen sollen interagieren und aussagekräftiger werden.

Auch die mittlerweile fast zentimetergenaue Erfassung von Positions- und Trackingdaten fördern eine unvorstellbare Menge an Daten zutage, die ohne Einordnung aber nutzlos bleiben. Allein die Position eines Spielers wird in 25 Bildern pro Sekunde erfasst, auf das gesamte Spiel gemünzt sind es rund 1000 Datenpunkte pro Sekunde. Also setzen hier die Aufgabenstellungen des Hackathons an.

"Selbst durch mehrfaches Sichten des Videomaterials kann kein Mensch diese Fülle an Informationen vollumfänglich verarbeiten - für Maschinen ist das dagegen in Sekundenbruchteilen kein Problem. Es geht darum, aus Big Data nun Smart Data zu machen", sagt Pascal Bauer, Manager Datenwissenschaft und maschinelles Lernen beim Innovation Desk der DFB-Akademie.

Bauer war vor seinem Engagement beim DFB am Fraunhoferinstitut angestellt, ehe er dem Lockruf aus Frankfurt erlag. Mitarbeiter des Fraunhoferinstituts, aber auch von Datendienstleistern wie "Stats Perform" oder Software-Entwickler von "Adidas" nehmen an den Hackathons teil. Teilweise aus Eigennutz - aber auch, um den deutschen Fussball weiter nach vorne zu bringen. Denn diesem übergeordneten Ziel rennen sie tatsächlich alle hinterher.

Deutschland hat Nachholbedarf

Grosse Klubs aus den anderen Top-5-Ligen Europas sind schon deutlich weiter als ihre Kontrahenten aus der Bundesliga, ebenso geht es dem DFB als Verband im internationalen Vergleich.

Beim FC Liverpool oder dem spanischen Grossgewicht FC Barcelona kümmern sich ganze Abteilungen um die Analyse und Aufbereitung der Spieldaten, um diese dann den Trainerteams zu präsentieren. Dann schlägt die Stunde der Mathematiker und Informatiker, die mit dem "einfachen Sportspiel" Fussball ansonsten nicht viel gemein haben.

Der deutsche Fussball hat in diesem Feld noch einiges aufzuarbeiten, also hat er sich endlich auch auf den Weg gemacht. Viele Innovationen sind mittlerweile auf der Strecke, die Hackathons dürften als ein wichtiger Teil davon auch in Zukunft interessante Erkenntnisse liefern - wenn denn irgendwann mal wieder gespielt wird.

Der zweite Hackathon hat wegen der Coronakrise und weil für valide Zahlen die letzten Spiele dieser Saison noch ausstehen derzeit ein wenig an Fahrt verloren. Die Teilnehmer agieren von zu Hause aus - und falls es die Situation erfordert, wird die Veranstaltung dann auch rein digital beendet.

Verwendete Quellen:

  • Dfb.de: Video zum zweiten Hackathon
  • Dfb.de: Hackathon: Von Big Data zu Smart Data
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