Auch die EM im Mutterland des Fussballs stand immer noch im Zeichen der politischen Veränderungen in Europa. 48 Verbände, einige davon erst ein paar Monate jung, hatten für die Qualifikation gemeldet – Rekord für die UEFA, die jetzt insgesamt 50 Mitglieder zählte. Und noch ein Rekord: Erstmals nahmen 16 Mannschaften an der Endrunde teil, erstmals gab es Viertelfinalspiele im Gastgeberland, erstmals gab es vier Gruppen mit jeweils vier Mannschaften.
Für die Qualifikation hiess dies, dass sich nunmehr zwei Mannschaften der jeweiligen Gruppe qualifizierten. Zumindest die sechs besten Zweitplatzierten. Die restlichen beiden mussten um den 15. und letzten Startplatz noch in ein Playoff-Spiel. Deutschland wurde in die Gruppe 7 zusammen mit Albanien, Wales, Moldawien, Georgien und – Bulgarien gelost! Gegen die Bulgaren war das DFB-Team bei der WM 1994 in den USA im Viertelfinale gescheitert und pochte nun auf Wiedergutmachung. Trotz einer erneuten bitteren Niederlage in Sofia gegen die Bulgaren gewann die deutsche Mannschaft die Gruppe 7 souverän und löste zusammen mit den Bulgaren das EM-Ticket. Zum Entscheidungsspiel kam es zwischen den Niederlande und Irland.
Der Ex-Europameister gewann das Playoff-Spiel in Liverpool gegen die Green Boys klar 2:0. Ganz England fieberte dem Startschuss am 8. Juni 1996 entgegen – und wurde erstmal bitter enttäuscht. Im Eröffnungsspiel gegen die Schweiz gab es für die Three Lions nur ein 1:1. Vom viel beschworenen „Spiriti of 66“ war noch gar nichts zusehen. Das 2:0 gegen den Erzrivalen Schottland bedeutete die Wende für die Engländer.
Im letzten Spiel gegen die Niederlande spielte sich der Gastgeber förmlich in einen Rausch und führte nach einer Stunde 4:0. Da im Parallelspiel die Schotten gegen die Schweiz ebenfalls führten, benötigte Holland noch einen Treffer, um noch ins viertelfinale einzuziehen. Durch Patrick Kluiverts Tor zwölf Minuten vor dem Ende mogelte sich die Niederlande doch noch in die Runde der letzten Acht. Deutschland hatte mit Italien, Tschechien und Russland eine schwere Gruppe erwischt. Gleich beim Auftakt gegen die Tschechen verletzte sich Jürgen Kohler schwer. Für den Dortmunder war das Turnier gelaufen.
Es sollte der Beginn einer beispiellosen Pechsträhne für die DFB-Elf werden. Trotzdem gewann Deutschland durch Tore von Andreas Möller und Christian Ziege. Im zweiten Spiel gegen die Russen überzeugte die deutsche Mannschaft und siegte locker 3:0. Da Mitfavorit Italien zeitgleich gegen die jungen Tschechen strauchelte (1:2), konnten vor dem letzten Spieltag noch drei Mannschaften auf das Viertelfinale hoffen. Italien benötigte gegen Deutschland einen Sieg und musste auf Schützenhilfe der Russen gegen Tschechien hoffen. Nach neun Minute hatte Gianfranco Zola die grosse Chance zur Führung, er scheiterte aber per Elfmeter an Andreas Köpke. Deutschland hielt auch gegen die Azzurri seinen Kasten sauber und zog mit sieben Punkten und 5:0 Toren als Gruppenerster ins Viertelfinale ein.
Gefolgt wurde die DFB-Elf von Tschechien, das sich beim 3:3 gegen die Russen den nötigen Punkt sicherte. Das Viertelfinale gegen Kroatien sollte dann ein echter Prüfstein werden. Die Kroaten um Davor Suker wurden als Geheimfavorit gehandelt und zeigten in der Vorrunde schon, warum. In einer überharten Partie ging Deutschland durch einen Elfmeter von
Zwei Viertelfinals gingen ins Elfmeterschiessen. England setzte sich 5:4 gegen Spanien durch und fieberte dem Klassiker gegen Deutschland entgegen. Die Niederlande verabschiedete sich durch ein 5:5 n.E. gegen Frankreich. Bei den Oranjes stimmte es innerhalb der Mannschaft überhaupt nicht. Ausgerechnet Clarence Seedorf, Anführer der Gruppe der Schwarzen in der Mannschaft, verschoss den einzigen Elfmeter. Im letzten Viertelfinale setzte sich Tschechien durch einen frechen Heber von Karel Poborsky gegen Portugal durch.
Vor dem Halbfinale gegen England lieferte sich die englische und deutsche Boulevardpresse einen teilweise geschmacklosen Krieg. Die „Sun“ zeigte einen deutschen Soldaten mit Sturmhelm und die Überschrift „Surrender, Fritz“ (Gib auf, Fritz) und kramte alte Geschichten aus dem zweiten Weltkrieg hervor. Das Spiel immerhin hielt dann auch, was es versprach: Es entwickelte sich von Beginn an ein echter Krimi. Alan Shearer brachte das Wembley-Stadion bereits nach drei Minuten mit seinem Tor zum 1:0 zum Kochen.Doch Stefan Kuntz’ Tor nach 19 Minuten brachte die Deutschen zurück ins Spiel. Bis zum Schlusspfiff ging es hin und her, ein Treffer wollte aber keinem mehr gelingen. Ebenso in der Verlängerung, die zum erstenmal im Golden-Goal-Modus gespielt wurde.
Das Elfmeterschiessen musste die Entscheidung bringen. Nach zehn Schüssen stand es 5:5, weder Köpke noch sein gegenüber David Seaman hatte auch nur den hauch einer Abwehrchance. Dann kam Gareth Sothgate und ballerte stur in die Mitte. Köpke war da und parierte. Andreas Möller blieb cool und schoss den Ball hart unter die Latte: Deutschland stand im Finale. Zusammen mit den Tschechen! Die setzten sich im zweiten Halbfinale ebenfalls nach Elfmeterschiessen gegen Frankreich durch. So endetet das Turnier für die deutsche Elf, wie es begonnen hatte: Mit einem Spiel gegen den Nachbarn. Das deutsche Lazarett lichtete sich ein wenig, Kapitän Klinsmann lief trotz Muskelfaserriss auf. Doch so leicht wie noch in der Vorrunde machten es die Tschechen dem Favoriten nicht mehr.
Im Gegenteil: Nach einem schnellen Konter foulte Sammer den durchgebrochenen Poborsky und Schiedsrichter Pierluigi Pairetto aus Italien entscheid auf Elfmeter. Patrick Berger, damals bei Borussia Dortmund unter Vertrag, traf zum 1:0. In der 69. Minute hatte Berti Vogts dann die beste Idee seiner Trainerlaufbahn. Er nahm Mehmet Scholl vom Feld und brachte Oliver Bierhoff. Der war gerade vier Minuten auf dem Platz, ehe er einen Freistoss von Ziege zum Ausgleich ins Netz köpfte Bis zum Schlusspfiff ereignete sich nicht mehr viel und somit ging es erneut in die Verlängerung.
Dort brachte die 105. Minute dann Historisches: Oliver Bierhoff bekam mit dem Rücken zum Tor stehend den Ball. Drehte sich zuerst nach links, dann rechts rechts. Seinen harmlosen Schuss aus elf Metern liess Petr Kouba durch die Finger gleiten und der Ball trudelte zum ersten Golden Goal der Geschichte ins tschechische Tor. Der Erfolg der deutschen Mannschaft war ein erfolg des Kollektivs – und es war der Erfolg des Berti Vogts, der nach langer Leidenszeit endlich seinen ersten Titel als Trainer feiern durfte.
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