In der vierten Minute der Nachspielzeit des intensiven Achtelfinals gegen Dänemark blockt Antonio Rüdiger in letzter Sekunde den Schuss von Jannik Vestergaard ab und feiert seine Aktion mit zwei geballten Fäusten und einem lauten Schrei wie einen Treffer. Rüdiger ist nicht nur der Mann des Spiels, sondern symbolisiert mit seinem Einsatz den Willen zur Unüberwindbarkeit. Er sendet zugleich ein wichtiges Signal in Richtung des nächsten Gegners, in dessen höchster Liga er sein Geld verdient.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Jörg Hausmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die selbstbewussten Spanier wissen nur zu genau, was im Viertelfinale gegen EM-Gastgeber Deutschland auf sie zukommt. Dazu bedarf es keines Videostudiums des Gegners. Und doch werden die Spanier nach ihrem 4:1 über Georgien an einer Szene aus dem deutschen Achtelfinale gegen Dänemark hängenbleiben. An dem Moment in der vierten Minute der Nachspielzeit, als der dänische Innenverteidiger Jannik Vestergaard an seinem deutschen Gegenspieler Antonio Rüdiger im Strafraum abprallt beim Versuch, auf das Tor von Manuel Neuer zu schiessen. "Ich bin ein emotionaler Spieler auf dem Platz. Es war ein wichtiger Block, es war wie ein Tor", erklärte Rüdiger nach Spielschluss selbst.

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Seit Saisonbeginn 2022/23 steht der Hüne in Diensten von Real Madrid. Als Abwehrchef des spanischen Rekordmeisters ist er einer der Garanten königlicher Erfolge. Im Viertelfinale der Champions League rückte Rüdiger nicht mit einer Abwehraktion ins Rampenlicht: Im Rückspiel gegen Titelverteidiger Manchester City verwandelte der einstige Stuttgarter den entscheidenden Strafstoss im Elfmeterschiessen. Real stand im Halbfinale und gewann im Finalduell auch gegen Rüdigers Ex-Klub Borussia Dortmund.

"Antonio Rüdiger ist der Krieger."

Olaf Thon über Rüdigers Bedeutung für die DFB-Elf

Auch bei der EM steht ein Viertelfinale an. Deutschland gegen Spanien, Rüdiger gegen seine Wahlheimat. Wieder könnte es bis zum Elfmeterschiessen dauern, ehe der Sieger feststeht. Unabhängig davon, ob es so weit kommt, ist seine Rolle klar: "Rüdiger ist ein absoluter Führungsspieler, der Krieger, der gemeinsam mit Manuel Neuer, Toni Kroos und Ilkay Gündogan die Achse im deutschen Spiel bildet." So sieht es Olaf Thon, Weltmeister von 1990 und Kolumnist unserer Redaktion. Thon betont im Gespräch, was jeder Fussballfan weiss: "In der Abwehr gewinnt man Titel."

Vor dem Treffen mit den Dänen hatte Thon - wie die ganze Fussball-Nation - bange auf den im Spiel gegen die Schweiz gezerrten Oberschenkel Rüdigers geblickt. Thon sprach in seiner Kolumne für unsere Redaktion sogar von einem "herben Schlag und einem Hammer", denn es drohte die doppelte Neubesetzung in der deutschen Deckung. Der Einsatz von Rüdigers Nebenmann Jonathan Tah war wegen dessen Gelb-Sperre ohnehin ausgeschlossen. Ihn ersetzte Nico Schlotterbeck vor seinem Dortmunder Heim-Publikum famos. Und tagelang war unklar, ob Rüdiger gegen Dänemark neben Schlotterbeck auflaufen würde.

Der Mann des Spiels gegen Dänemark heisst Antonio Rüdiger

Er lief auf, die "Schwächung" (Thon) blieb aus. Rüdiger avancierte zum Mann des Spiels. "Da sieht man Rüdigers besondere Struktur, körperlich und auch menschlich. Rüdiger ist bei Real gereift. Er gibt der Abwehr diesen Tick obendrauf. Er muss als Kopf der Abwehr gesund bleiben."

Rüdiger setzt die Tradition von schwer zu überwindenden Abräumern wie Willi Schulz, Karl-Heinz Förster, Jürgen Kohler oder Jerome Boateng im DFB-Trikot fort. Gegen Dänemark wies der gebürtige Berliner die Traumquote von 100 Prozent gewonnener Zweikämpfe auf.

"Wir müssen jede Aktion bejubeln."

Antonio Rüdiger weiss, wie der Funke überspringt

"Es wird viel über Stürmer gesprochen bei einem Turnier", sagte der Umjubelte selbst am Abend. "Aber es ist wichtig, zu null zu spielen in so einer Phase des Turniers. Da müssen wir jede Aktion bejubeln."

Julian Nagelsmann sagte am Vorabend des Dänemarks-Spiels, Rüdiger sei "sehr wichtig für uns", und der Bundestrainer unterstrich anschliessend: "Bei Toni wissen wir eh, dass er gut spielt." Torwart Manuel Neuer untermauerte nach dem Erfolg über Dänemark die Zuverlässigkeit seines Vordermanns: Über Toni müsse man "kein Wort verlieren".

Stellvertretend tat dies Berti Vogts, der letzte Bundestrainer, unter dem Deutschland Europameister wurde. Das war 1996 in England, und auch damals spielten die Abwehr eine Hauptrolle. "Rüdiger hat stark gespielt, er hat sich immer reingeworfen, er hat sich für das Team eingebracht. Klasse! Sein Jubel nach dem geblockten Ball macht deutlich: Hier fährt keiner einen Egotrip, hier ist jeder für den anderen da, wenn einer einen Fehler macht, bügelt ein anderer ihn aus, hier will jeder unbedingt Erfolg haben." Dies ist ganz im Sinne von Vogts: Die Mannschaft ist der Star.

Der deutsche "Panzer" ist Vergangenheit

Das von französischen und englischen Medien im Laufe einer WM oder EM - auch noch 1996 - gerne bediente Stereotyp des deutschen Panzers, der über das vermeintlich schönere Spiel des Gegners gnadenlos drüberwalzt, gilt im Jahr 2024 längst nicht mehr. Die Qualität des deutschen Spiels geht über das Zerstören längst hinaus. Dessen Ausrichtung hin zum Spielerischen ist spätestens seit 2004 unter Jürgen Klinsmann und Joachim Löw vollzogen.

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Trotzdem - oder gerade deshalb - betonte Thon vor dem Dänemark-Spiel: "Wir spielen manchmal noch viel zu schön, gerade mit Florian Wirtz und Jamal Musiala, aber auch Ilkay Gündogan und Toni Kroos. Wir müssen wieder mehr kämpfen. Das Spielen kommt dann von ganz alleine."

Antonio Rüdiger hätte die Dänen gerne früher "getötet"

Rüdiger vereint die beiden Elemente prototypisch: Ball erkämpfen und dann das Spielen mit einem durchdachten Pass einleiten. Nach dem 2:0 über die Dänen sagte der 31-Jährige martialisch: "Was wir kritisieren können, ist, dass wir sie nicht vorher getötet haben."

Die "Sportschau" erinnerte in ihrem Rüdiger-Stück nach dem Achtelfinale an eine frühere Aussage des Abwehrmannes: "In den Käfigen von Berlin, da gewinnt der Stärkere - so einfach ist das. Man lernt, sich durchzusetzen, egal wie alt der Gegner ist." Rüdiger wird gegen Spanien im Käfig von Stuttgart, wo er sportlich viereinhalb Jahre lang daheim war, alles in seiner Macht Stehende tun, damit der Stärkere Deutschland heisst und am Ende im Halbfinale steht. Wie 1988, beim bisher letzten Pflichtspielsieg über Spanien.

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