Effektivität, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit – drei Eigenschaften, die im Ausland stets mit Deutschland verbunden wurden. Das hat mit der Heim-EM ein Ende. Und Schuld ist die Deutsche Bahn.
Lange muss man nicht suchen, bis man sie findet: die Bahn-Horrorgeschichten. Da wären Andreas F. und sein Sohn, die um 7:15 Uhr in Wien gestartet waren und laut "Krone.at" erst zur 70. Minute beim Österreich-Spiel in Düsseldorf auf ihren Plätzen sassen. Sie waren bei ihrer Odyssee unter anderem mit sehr vielen anderen ÖFB-Fans in Passau gestrandet, wo sie insgesamt drei Stunden auf die Weiterfahrt warten mussten. Nun ist Passau schön, aber nicht, wenn man nach Düsseldorf will. Selbiges gilt im Übrigen für Würzburg, wo sich die Weiterfahrt ebenfalls verzögerte.
Oder Steve Grant, der beim England-Spiel in Gelsenkirchen war und die Überfüllung an den Bahnsteigen in "The Athletic" als "so gefährlich" beschreibt, dass wenn man an der Bahnsteigkante stand, man sein gesamtes Gewicht benutzen musste, um nicht auf die Gleise geschubst zu werden. Es habe keine Massnahmen gegeben, um die Menge in Schach zu halten.
"Dystopische" Szene in Gelsenkirchen
ESPN-Reporter James Olley hat das Chaos gefilmt. Auf X schreibt er: "Das ist wirklich nicht besonders gut. Der Bahnhof in Gelsenkirchen ist immer noch voller Fans, die hier wegwollen, aber entweder kommen die Züge gar nicht, oder sie haben Verspätung." Der britische "Guardian", eigentlich eins der gemässigteren Presseerzeugnisse von der Insel, beschreibt die Szenerie als "dystopisch".
Und wem das noch nicht reicht, der möge gerne bei X nach "German efficiency" suchen und sich durch hunderte und aberhunderte Tweets wühlen, die den Abgesang auf diesen deutschen Mythos anstimmen.
Die Bochum-Gelsenkirchener Strassenbahnen AG fand am Konzept von An- und Abreise zur Arena auf Schalke im Übrigen keinen Fehler. "Social Media ist eine Momentaufnahme, die nur ein begrenztes Bild abgibt", sagte ein Sprecher der Bogestra auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Man habe einen "guten Einsatz" gehabt. Vielleicht ist man es in Deutschland inzwischen einfach schon nicht mehr anders gewohnt.
Inzwischen hat es in Gelsenkirchen immerhin ein Aufarbeitungsgespräch zwischen den Verkehrsunternehmen DB Regio und VRR und dem örtlichen EM-Büro gegeben. "Es werden Massnahmen ergriffen, um das Angebot zu erweitern und zu optimieren."
Die Probleme der Bahn verschwinden nicht zur EM
Dennoch hätte man es kommen sehen müssen. Die EM soll so nachhaltig wie möglich sein. Mannschaften und Fans sollen per Zug durch Deutschland reisen. Hunderttausende Fans, die zusätzlich zum normalen Fahrgastaufkommen die Züge bevölkern. Das klingt in der Theorie nach einer guten Idee. Wenn man jedoch das marode Schienennetz und die vielen Baustellen mit einrechnet, wird daraus ein Rezept für das Chaos, das die Fans gerade ausbaden müssen.
Am Samstag, einen Tag nach EM-Eröffnung, teilte die Bahn mit, dass ihre Fernzüge zuletzt wieder unpünktlicher gewesen seien. Im Mai kamen lediglich 63,1 Prozent der IC- und ICE-Züge der Bahn ohne grössere Verzögerung ans Ziel. Im April lag die Quote bei 64,3 Prozent, im März noch bei 67,6 Prozent. Als verspätet gilt ein Zug ab einer Verzögerung von sechs Minuten. Schuld sei das erhöhte Baugeschehen. Man habe verstärkt im Schienennetz gebaut, um zu Beginn der EM möglichst wenige Baustellen zu haben.
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Dieser Plan ist offenbar gescheitert. Man wird die Statistik abwarten müssen, aber die Vermutung liegt nahe, dass es auch im Juni keine Verbesserung der Pünktlichkeit geben wird. Und im Juli vermutlich auch nicht. Hatte irgendjemand ernsthaft daran geglaubt, dass sich die Probleme der Bahn während der EM einfach in Luft auflösen würden? Die Infrastruktur ist immer noch in grossen Teilen veraltet, das Netz schon ohne Fussballfans überlastet und viele Baustellen wurden eben bis zur EM nicht geschlossen. Von möglichen Wetterkapriolen, fehlgeleiteten Investitionen in den vergangenen Jahren und der Monopolstellung der Bahn ganz zu Schweigen. Das würde den Rahmen sprengen.
Während bei den ausländischen Fans die Wut vorherrscht, begegnen viele Deutsche dem Chaos mit Galgenhumor. Sportjournalist Benni Zander fasst es bei X akkurat zusammen: "Liebe es, dass wir ganz Europa vier Wochen lang dazu zwingen, mit verspäteten Zügen zu fahren und nirgendwo mit Karte zahlen zu können!" Die Deutschen sind es ja nicht anders gewöhnt.
Immerhin muss man sich keine Sorgen machen, dass das DFB-Team zu spät zu seinen Spielen kommt. Die Nationalmannschaft hat sich entschieden, mit dem Bus anzureisen.
Verwendete Quellen
- Krone.at: Nach Horrortrip erst zur 70. Minute ins Stadion
- The Guardian: Fans left sidelined and with nowhere to go thanks to Uefa’s bumbling genius
- X-Profil von James Olley, Stand 19. Juni 2024
- The Athletic: Euro 2024 and German efficiency: Forget everything you thought you knew
- Mit Material des sid
- Mit Material der dpa
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