Merih Demiral hat mit seinem Wolfsgruss ein politisches Erdbeben rund um die EM in Deutschland losgelöst. Das Viertelfinalspiel zwischen der Türkei und den Niederlanden wird zum "Nonplusultra-Hochrisikospiel" und dass sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan angekündigt hat, giesst weiter Öl ins Feuer.
Der Präsident kommt. Natürlich. Eine bessere Bühne als das EM-"Heimspiel" der Türken in Berlin hätte sich Recep Tayyip Erdogan für eine Machtdemonstration gar nicht wünschen können. Ein Olympiastadion getaucht in Rot und Weiss, der Wolfsgruss möglicherweise zehntausendfach auf der Tribüne: Schon vor Anpfiff des historischen Viertelfinals wird es im Lichte der neusten diplomatischen Spannungen einen Sieger geben: Erdogan.
Nach dem Wolfsgruss-Eklat um den türkischen Nationalspieler Merih Demiral entwickelte sich die Debatte rasend schnell zur politischen Affäre, die Erdogan für sich nutzte und den kurzfristigen Besuch der K.o.-Partie am Samstag (21.00 Uhr/RTL und MagentaTV) gegen die Niederlande ankündigte. Die diplomatische Sprengkraft ist enorm, das Olympiastadion ein Pulverfass, weshalb die Polizei das Viertelfinale umgehend als "Nonplusultra-Hochrisikospiel" einstufte.
Aufruf zum Wolfsgruss
Ein geräuschloses Fussballspiel in der Hauptstadt, in der 200.000 türkischstämmige Menschen leben, darf nach den jüngsten Ereignissen kaum erwartet werden. Am Freitag forderten türkische Ultras dazu auf, während der Nationalhymne vor der Partie den sogenannten Wolfsgruss zu zeigen. Die Aktion solle symbolisieren, hiess es in dem Aufruf bei X, "dass das Zeichen der Grauen Wölfe kein Rassismus ist, sondern das nationale Symbol des Türkentums." Derartige Bilder wären für Erdogan eine enorme Genugtuung.
Denn die Reibungspunkte mit dem deutschen Gastgeber sind offenkundig. Nachdem Demiral, der nun von der Uefa für zwei Spiele gesperrt wurde, das Symbol der rechtsextremen und ultranationalistischen Organisation Graue Wölfe, die als militanter Arm der rechtsextremen Partei MHP gilt, beim Achtelfinal-Erfolg (2:1) gegen Österreich als Torjubel gezeigt hatte, übte Bundesinnenministerin Nancy Faeser scharfe Kritik. Die Giftpfeile flogen prompt - schliesslich ist die MHP Bündnispartner von Erdogans AKP. Nach der Einberufung des deutschen Botschafters in Ankara bestellte das Auswärtige Amt am Donnerstag den türkischen Abgesandten ein.
Die Polizei ist vorbereitet
In diesem Reizklima ist schwierig abzusehen, was tatsächlich am Samstag passieren wird, die Polizei sieht sich auf alles vorbereitet. 3.000 Einsatzkräfte, sagte Gewerkschaftssprecher Benjamin Jendro dem Nachrichtenportal "watson", werden im Einsatz sein. "Es wird alles in den Dienst alarmiert, was irgendwie möglich ist, und wir hoffen natürlich auf Unterstützung von Bund und Ländern", sagte Jendro, der obendrein klarstellte: "Bei uns gilt der Wolfsgruss als rechtsextremes Symbol." Verboten ist die Geste in Deutschland offiziell nicht.
Neben dem Bereich um das Stadion wird die Polizei vor allem auch die Fantreffen am Hammarskjöldplatz (Niederlande) und Breitscheidplatz (Türkei) absichern. Die Türken, die schon in den vorigen Runden die Siege ihrer Mannschaft mit Autokorsos auf dem Kurfürstendamm feierten, dürften jedoch klar in der Überzahl sein. Gerade in den Bezirken Kreuzberg und Neukölln wird Ausnahmezustand herrschen, Fans drängen in die Cafes und Spätis, um am Bildschirm gemeinsam mitzufiebern.
Calhanoglu sieht ein Heimspiel
"Dass wir zuhause spielen, pusht uns natürlich nochmal extra", sagte der türkische Kapitän Hakan Calhanoglu, einer von fünf Nationalspielern, die in Deutschland geboren wurden. Für ihre Landsleute wird der Samstag ein einmaliger Festtag, ihre Mannschaft steht seit 16 Jahren erstmals wieder unter den besten Acht Europas. Damals bei der EM 2008 in Österreich und der Schweiz war die Türkei erst im Halbfinale an Deutschland gescheitert.
Mit Regisseur Calhanoglu, der gegen Österreich gelbgesperrt gefehlt hatte, halten die Türken einen solchen Sensations-Coup erneut für realistisch. "Wir haben jetzt die Holländer vor uns, die auch eine sehr starke Mannschaft sind. Aber wenn wir so wie heute spielen, kann vieles möglich sein", sagte Calhanoglu: "Mit Herz und Leidenschaft kann man das schon packen." Und trotzdem richten sich erstmal alle Augen auf die Tribüne. Auf Recep Tayyip Erdogan. (sid/ska) © SID
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.