• Der deutsche Sieg über Portugal war auch ein Sieg der Mentalität und des Willens - und wurde so zum grossen Abend für den überragenden Robin Gosens.
  • Mitentscheidend waren die Aussenpositionen - besetzt von Joshua Kimmich und eben Gosens.
Eine Analyse

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Wenn man den fulminanten Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen Portugal verstehen will, muss man vielleicht noch einmal ein paar Stunden zurückspulen. Auf der Pressekonferenz am Tag vor dem Spiel erklärte Joshua Kimmich noch einmal die Wirkmacht der so genannten Flügelspielerposition. In 3-4-3 mit dem Ball sollen die beiden äussersten Spieler dabei alles sein: Verteidiger, Mittelfeldspieler, Angreifer.

Die Positionierung im Ballbesitz sei eine ganz andere, fast auf Höhe der gegnerischen Abwehrkette. Demzufolge "attackiert man auch höher und dann auch schon den gegnerischen Aussenverteidiger, was man als Spieler in einer Viererkette eher nicht machen würde", so Kimmich.

Den "Joker" nannte er seine und die Position von Robin Gosens, so weit weg vom Zentrum, dass die vielen gegnerischen Abwehrbeine nicht immer gleich Zugriff bekommen und man - im besten Fall - darüber ein Spiel lenken kann.

Der deutschen Mannschaft ist das gelungen am Samstagabend gegen Portugal: Sie hat sich nicht im Dickicht des zentralen Mittelfelds verheddert, wo sie nummerisch mit ihren beiden Spielern Ilkay Gündogan und Toni Kroos gegen das Dreiergestirn der Portugiesen in deren 4-3-3 in Unterzahl war. Sie hat stattdessen den Platz in der Peripherie der Seitenlinien genutzt und praktischerweise ihre beiden an diesem Abend besten Spieler dort aufgeboten: Kimmich und Gosens.

Wenn das Stadion zum Familientreff wird: DFB-Spieler vermissen ihre Liebsten

Bei der Corona-EM 2021 ist alles anders: Weil die Spieler wegen strenger Corona-Regen ihre Familien während des Turniers nicht sehen dürfen, wird das Stadion nun zum Familientreffpunkt. Joshua Kimmich etwa begrüsste nach dem 4:2 gegen Portugal seine Liebsten an der Tribüne. Der Kontaktverzicht fällt nicht nur dem 26-Jährigen schwer. (Foto: imago images/ActionPictures)

Aus Schwächen werden Stärken

Die beiden bildeten gegen den Europameister eine Flügelzange im besten Wortsinn und bestätigten Kimmichs Worte vom Abend davor. Der hatte angemerkt, dass das Spiel "vermeintlich abseits von einem selbst stattfindet und man vermeintlich auftragslos ist".

Kimmich und Gosens stiessen immer wieder sehr tief hinein hinter die gegnerischen Linien und in die freien Räume, wobei Gosens seine Aufgabe sogar noch stürmischer interpretierte als der eher vorbereitende und auch mal zur Mitte ziehende Kimmich. Die Krux am alten System mit neuer Interpretation war, dass die Schwächen aus dem Frankreich-Spiel auf diese Art plötzlich zu Stärken gegen die Portugiesen wurden.

Gosens: "Ordentlich Druck auf dem Kessel"

Es war nicht mehr viel zu sehen vom Zögern und Zaudern, das noch die Partie gegen den Weltmeister gekennzeichnet hatte. Stattdessen hatte die deutsche Mannschaft fast permanent den Fuss auf dem Gaspedal und liess sich auch vom Rückstand nicht beeindrucken.

"Der Auftrag war, in der Offensive ganz andere Kraft zu erzeugen. Genau das wurde sehr gut umgesetzt, dass die richtigen Räume bespielt wurden, dass wir vorne nicht das Tempo rausnehmen. Es war geplant den Portugiesen zu zeigen, dass wir nicht gewillt sind, das Spiel abzugeben", sagte Löw nach dem Spiel in der "ARD".

Das sah dann so aus, dass die deutschen Spieler auch nach einem Ballverlust nicht zurückwichen, sondern in Ballnähe sofort nach vorne verteidigten und dahinter sauber nachrückten und sich den Gegenspielern zuordneten. Das war auch schon der Plan gegen die Franzosen gewesen. Nur hatte die deutsche Mannschaft da noch zu viel Respekt vor den schnellen Konterattacken des Gegners - und Kimmich und Gosens auch ein anderes Kaliber an direkten Gegenspielern.

Frankreich spielte gegen Deutschland auch auf den Aussenbahnen mit gelernten Innenverteidigern, während Portugal in Semedo und Raphael Guerreiro zwar offensivstarke, aber in der Defensive nicht immer zuverlässige Aussenverteidiger beschäftigt. Eine Steilvorlage für Gosens, der Semedo immer wieder entwischte, über seine Seite zwei Tore vorbereitete und eines selbst erzielte.

"Gestern Abend habe ich schon gemerkt, dass das richtig gut werden kann. Ihr habt alle gesehen, wie Jogi Löw uns gestern beim Abschlusstraining schon eingeheizt hat, dass er gesagt hat, dass wir in den Wettkampf-Modus schalten, weil heute ein Alles-oder-Nichts-Spiel ist. Jedem war klar, was auf dem Spiel steht und dass ordentlich Druck auf dem Kessel ist - und ich glaube, das haben wir mit Bravour gelöst", war Gosens nach dem besten seiner erst neun Länderspiele sichtlich gelöst.

Mentalität schlägt Taktik

In der Folge eines grossen Sieges muss man ja immer auch vorsichtig sein mit zu grossen Lobeshymnen, zumal in diesem Fall die deutsche Mannschaft noch immer nichts erreicht hat. Erst ein entsprechendes Resultat am Mittwoch gegen die Ungarn lässt Deutschland ins Achtelfinale aufrücken.

Aber auf seine letzten Tage als Bundestrainer scheint Löw nach Jahren und Dutzenden von Kandidaten in Gosens und im 3-4-3 endlich eine Lösung für die Dauerbaustelle ganz links draussen gefunden zu haben. Jedenfalls kombiniert der 26-Jährige fussballerische Expertise mit Mentalität, Leistungsbereitschaft, Willen und Leidenschaft.

Auch deshalb wurde die Partie gegen Portugal zu einem kleinen Plädoyer für die vermeintlich einfachen Dinge des Fussballs. Die grossen Debatten um Taktik und Matchplan sind notwendig, aber vielleicht nicht immer zielführend genug. Sobald die Hardware nicht von der Software unterstützt wird, ist auch das beste System unbrauchbar. Insofern lag auch der Bundestrainer selbst richtig, der trotz der Niederlage gegen Frankreich und tagelanger Diskussionen um die Taktik und die Aufstellung an seinem Personal festhielt und allenfalls Kleinigkeiten in den Abläufen und der Positionierung einzelner Spieler vornahm.

Und am Ende ist es eben wie immer im Fussball: Die einzige Währung ist der Erfolg. Löw hätte sich als Sturkopf und beratungsresistent wüsten Attacken von allen Seiten ausgesetzt gesehen. So wird nun das schöne Wort vom Rückgrat die Runde machen, das der Bundestrainer gezeigt hat und damit das Vertrauen seiner Spieler stärken konnte. Auch das von Joshua Kimmich und Robin Gosens. In der Form jedenfalls gibt es bei der EM kaum eine bessere offensive Flügelkombination.

Verwendete Quellen:

  • zdf.de: "DFB-Pressekonferenz mit Löw und Kimmich"
  • sport1.de: "'Da kocht der Kessel'"
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