• Der vorläufige EM-Kader der deutschen Nationalmannschaft steht. Aber was kann Jogi Löw bei seinem letzten Turnier als Bundestrainer mit dieser Mannschaft erreichen?
  • Über eine Talente-Tiefe wie Frankreich oder England verfügt der deutsche Fussball im Moment nicht.
  • Dennoch befindet sich das DFB-Team mit einigen Top-Nationen auf Augenhöhe.
Eine Analyse

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Manchmal ist es ganz gut, nicht aus der ersten Reihe zu starten. Vor drei Jahren, als die deutsche Nationalmannschaft als Titelverteidiger zur Weltmeisterschaft nach Russland reiste, war das Team selbstredend einer der ganz grossen Favoriten auf den Titel. Das Ende ist bekannt, Deutschland rannte in die schlimmste Blamage seiner langen Geschichte. Hochmütig bis arrogant trat die Mannschaft damals auf und wurde gnadenlos dafür bestraft.

Von der Blasiertheit dieser Tage wird kaum noch etwas übrig sein, wenn die deutsche Mannschaft des Jahres 2021 sich zur Mission Europameisterschaft aufmacht.

Zu viel ist passiert in den letzten drei Jahren, zu viele Rückschläge ordneten die kurzen Hochphasen wieder ein und nur mit ein paar Nations-League-Spielen und einigen in den Qualifikationsrunden lässt sich keine Einordnung darüber treffen, wie gut diese Mannschaft wirklich sein kann. Und wie weit weg sie von der Weltspitze wirklich noch ist.

Mit Thomas Müller und Mats Hummels auf einen EM-Trip ins Ungewisse

Die Europameisterschaft wird also für Joachim Löw und seine Mannschaft auch ein Trip ins Ungewisse. Da trifft es sich ganz gut, dass nun wenigstens der grobe Kader der Mannschaft schon mal bekannt ist. Am Mittwoch lüftete Löw das grosse Geheimnis, er holt Thomas Müller und Mats Hummels zurück und lässt Jerome Boateng zu Hause.

Das war in etwa so erwartet worden, die Absage von Marco Reus dagegen kam nach den zuletzt gezeigten Leistungen des Dortmunders und dessen Wunsch, doch noch irgendwie auf den EM-Zug aufzuspringen, überraschend.

Aber auch ohne Reus und den verletzten Ersatzkeeper Marc-Andre ter Stegen hat Löw bei seinem letzten Turnier als Chef einen ganz passablen Kader zusammen. Nicht so eine hoffnungsvolle Truppe wie die Engländer mit ihren vielen herausragenden Top-Talenten, nicht so einen gleichermassen top wie homogen besetzten Kader wie die Franzosen, die problemlos auch eine zweite Mannschaft hätten stellen können mit der Ambition auf den EM-Titel.

Über eine derartige Talente-Tiefe verfügt der deutsche Fussball im Moment nicht - aber auf Augenhöhe mit Italien, Portugal, Spanien, Belgien und der Niederlande kann Deutschland durchaus ins Endturnier starten.

Zum Nachlesen Die Nominierung des EM-Kaders in unserem Live-Ticker

Grosse Probleme in der Abwehr

Deutschlands Kader ist nicht so homogen wie der anderer Nationen, er besitzt neben einigen Stärken auch ein paar deutliche Schwächen. Das Spiel gegen den Ball und die Restverteidigung der Mannschaft gehören dazu. Obwohl nun auch wieder Mats Hummels mitspielen darf, bleibt ein Qualitätsproblem im Abwehrzentrum.

Hummels bringt reichlich Erfahrung und Ausstrahlung mit, aber vom Routinier sind deshalb noch lange keine Wunderdinge zu erwarten. Antonio Rüdiger spielt in London eine starke Rückserie und dürfte gesetzt sein, Niklas Süle kommt aus einer Verletzung, Robin Koch ist talentiert, aber auf dem Top-Niveau noch nicht erprobt genug. Im Vergleich zu anderen Nationen fehlt da ein ganzes Stück zur Weltklasse.

Auf den Aussenbahnen zeigen sich noch grössere Probleme. Löw plant fest mit Robin Gosens als Linksverteidiger, auf der rechten Seite klafft aber eine Lücke. Hier wird der Bundestrainer improvisieren müssen, es vielleicht mal wieder mit Allrounder Emre Can probieren.

Fehlender echter Mittelstürmer ein Problem - auf den ersten Blick

Gelernte Aussenverteidiger von gehobenem Format besitzt Deutschland nicht und dann ist es auch egal, ob Löw in der letzten Linie mit einer Vierer- oder einer Dreierkette spielen lässt. Der Abwehrverbund ist der wunde Punkt im deutschen Team, losgelöst von allen taktischen Vorgaben fällt die Qualität im Vergleich zu anderen Top-Nationen in diesem Mannschaftsteil doch deutlich ab.

Die Tatsache, dass Deutschland auch über keinen echten Mittelstürmer verfügt und damit im Kreis der vermeintlich grossen Mannschaften aus der Reihe tanzt, ist auf den ersten Blick ein Nachteil. Jeder andere Favorit hat mindestens einen klaren Torjäger im Team, einen klassischen Mittelstürmer.

Cristiano Ronaldo, Kylian Mbappe, Harry Kane, Ciro Immobile, Alvaro Morata oder Romelu Lukaku verstärken die Offensiven der grossen Nationen, die Polen haben Robert Lewandowski. Deutschland hat Timo Werner als eine Art verkappten Stossstürmer - einen Spieler, der für den FC Chelsea in dieser Saison in 50 Spielen zwölf Tore erzielt hat.

Weltklasse im Mittelfeld

Trotzdem setzt Löw auf zwei Grundordnungen, die jeweils eine zentrale Spitze vorsehen. Die deutsche Mannschaft wechselt in der Regel zwischen einem 4-3-3 und einem 3-4-2-1. Wobei die Interpretation des zentralen Angreifers je nach Gegner und eigener taktischer Ausrichtung variiert. Deshalb könnte Kai Havertz auch so wichtig werden für die Mannschaft.

Der Chelsea-Star ist flankiert von den reinen Flügelspielern Leroy Sane und Serge Gnabry die erste Option für das Sturmzentrum. Havertz‘ Timing in der Besetzung tieferer Räume, um im Mittelfeld zu überladen, und sein Drang nach vorne, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt, ist nahezu perfekt. Zusammen mit seiner überragenden Technik und dieser Leichtfüssigkeit dürfte er der Prototyp der falschen Neun sein.

Die entsprechende Unterstützung und der Fluss an Zuspielen sollte durch das Herzstück des deutschen Spiels jedenfalls nie versiegen. Im Mittelfeld besticht Löws Kader durch die Bank mit Weltklasse-Akteuren und am Ende wird der Bundestrainer die schwierige Aufgabe zu meistern haben, aus Joshua Kimmich, Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Leon Goretzka und Thomas Müller die richtigen Spieler in der richtigen Mischung zueinander zu finden.

Alles und Nichts ist möglich

Es brauche bei so einem Turnier immer auch ein bisschen Glück und einen günstigen Verlauf, sagte Löw auf der Pressekonferenz am Mittwoch. Diese Erfahrung habe er nun nach sieben Turnieren als Chef oder als Co-Trainer machen können. So eine schwere Gruppe wie jene bei seinem letzten grossen Turnier hatte aber auch Löw noch nie vor der Brust.

Gegen den amtierenden Weltmeister und gegen den amtierenden Europameister kann man ausscheiden, ohne mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt zu werden - Ungarn als möglicher Stolperstein für die vermeintlich grossen Nationen nicht zu vergessen.

Löw hat den grossen Vorteil, dass er keine Rücksicht mehr nehmen muss auf Namen oder die langfristige Entwicklung der Mannschaft, das obliegt seinem Nachfolger. Er wird deshalb auch reinen Ergebnisfussball spielen lassen und sehr pragmatisch an die Aufgaben herangehen, vom 2018er Spirit mit dem Dogma des Ballbesitzfussballs wird nichts mehr übrig bleiben.

Diese deutsche Mannschaft kann an einem guten Tag alles erreichen, sie kann sogar Frankreich schlagen. Andererseits ist auch ein frühes Ausscheiden absolut drin. Tatsächlich ist es so schwer wie nie zuvor, eine Prognose zum deutschen Abschneiden zu wagen, vielleicht deshalb nur so viel: Eine Blamage wie vor drei Jahren sollte es doch bitteschön nicht noch einmal sein.

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