"Dieses Italien ist besser als 2012", sagt Bundestrainer Joachim Löw. Das lässt Schlimmes befürchten und ruft böser Erinnerungen an seine schlimmste Niederlage hervor. Aber: Auch Löw ist besser geworden.

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Angst essen Seele auf, sagt der Protagonist in Rainer Werner Fassbinders gleichnamigem Film. Angst essen aber auch Spielphilosophie auf. So wie am 28. Juni 2012 in Warschau, dem Tag der bittersten Niederlage in Joachim Löws Trainerleben.

Von der Furcht getrieben, der geniale Spielmacher Andrea Pirlo könnte sein Team im Alleingang zerlegen, setzte der Nationaltrainer im EM-Halbfinale Toni Kroos auf Italiens Nummer 21 an – und gab den rechten Flügel preis. "Im Nachhinein ist der Plan nicht aufgegangen", sagt Löw heute, er nimmt sogar das Wort "verzockt" in den Mund. Es war eine Abkehr von der offensiven Ausrichtung, die Deutschland zuvor 15 Spiele hintereinander gewinnen liess. Es war sein Fehler, der wohl grösste seiner bisherigen Amtszeit.

Nun steht die deutsche Mannschaft im Viertelfinale der EM 2016 am Samstag in Bordeaux schon wieder Italien gegenüber. Die "Squadra Azzurra" ist der Angstgegner jeder deutschen Elf, in acht Spielen bei grossen Turnieren gab es keinen einzigen deutschen Sieg. Für Löw könnte sich Italien zur Nemesis entwickeln: Schon 2006 war er als Co-Trainer im WM-Halbfinale am späteren Weltmeister gescheitert. Dann die Katastrophe von 2012 - und Samstag? "Es ist ein viel besseres Italien als 2012", sagt Löw. Aber: Ist er nicht auch ein besserer Trainer als 2012? Es deutet einiges darauf hin.

Löw zieht die richtigen Schlüsse

Noch, sagte Mario Gomez am Mittwoch bei der DFB-Pressekonferenz, wüssten sie ja gar nicht, wie sie gegen Italien spielen wollen. Löw hatte schon vor ein paar Tagen angekündigt, er müsse noch ein wenig "tüfteln". Er muss kein Geheimnis daraus machen, dass ihm das beeindruckende 2:0 im Achtelfinale gegen Titelverteidiger Spanien zu denken gibt. Sein Gegenüber Antonio Conte erweist sich in diesem Turnier als Taktik-Grossmeister, gegen den man sich besser gut vorbereitet.

Aber einen wichtigen Schluss hat Löw aus der Niederlage von 2012 gezogen: Er will seine Spielphilosophie nie wieder dem Gegner anpassen. "Ich liebe es, offensiv zu spielen", sagte er dem "Kicker" einmal. Das ist die unbedingte Leitformel der DFB-Elf, seit sie mit einem eher passiven Ansatz bei der WM 2010 an Spanien scheiterte. Seitdem will Löw mehr Ballbesitz, er will dominieren, er will das Spielgeschehen diktieren. Wenn seine Mannschaft das umsetzt, muss sich der Gegner auf Deutschland einstellen, nicht umgekehrt.

Warum Löw im EM-Halbfinale von diesem Weg abkam? "Wir haben alle nicht unsere Leistung abgerufen an diesem Tag", sagte er nach der Niederlage, er meinte auch sich damit. So offensiv er heute mit seinem Fehler umgeht, so offensiv betont er, dass sich dieser Fehler nicht wiederholen wird. "Wir haben keine Angst", sagte Löw vor einigen Tagen. "Wir haben Vertrauen in unsere Leistungsfähigkeit." Und allen Grund dazu: Noch hat Deutschland im Turnier keinen Gegentreffer kassiert und von Spiel zu Spiel offensichtliche Schwächen ausgemerzt.

Dreierkette ist eine Option

Der Glaube an die eigene Stärke bedeutet nicht, dass es keine Umstellungen geben könnte. Gegen die Slowakei hatten es die Aussenverteidiger Jonas Hector und Joshua Kimmich relativ leicht. Gut möglich, dass zumindest der junge Münchner für zu unerfahren befunden wird, um gegen die abgezockten Angreifer der ältesten Turniermannschaft zu bestehen. Benedikt Höwedes, einer der Helden von Rio, steht bereit.

Sogar eine Dreierkette ist denkbar, wie Mats Hummels heute in der Pressekonferenz bestätigte: "Das kann ich mir gut vorstellen. Und wir können das auch, das haben wir gegen Italien gezeigt." Beim 4:1-Testsieg in München Ende März funktionierte die Dreierkette sehr gut, allerdings gegen eine ersatzgeschwächte "Squadra Azzurra". Aber allein der Versuch zeigt: Löw ist flexibel geworden. Er hält zwar immer an seiner offensiven Ausrichtung fest, nicht aber an seiner Taktik.

Löw lernt aus Fehlern

Wie flexibel der Bundestrainer geworden ist, sieht man auch an den Standardsituationen, die bis zur WM 2014 an beiden Enden des Feldes zu den grossen Problemen zählten. Im WM-Halbfinale 2010 erledigte Carles Puyol die Deutschen mit einem Kopfball nach einer Ecke. 2012 gegen Italien entstand das 0:2 aus einer eigenen Ecke, die Buffon leicht abfangen konnte.

Daran haben Löw und sein Trainerteam gearbeitet – heute gehören die Standards zu den grossen Stärken des Teams. 2014 fiel beispielsweise das 1:0-Siegtor gegen Frankreich nach einem Freistoss. Bei der EM 2016 entstanden bislang drei von sechs Toren aus Standards.

Diesen unbedingten Willen, aus Fehler zu lernen und Schwächen in Stärken umzuwandeln, hat Löw dem Vernehmen nach in den Wochen nach der Niederlage von Warschau entwickelt. Fast einen ganzen Monat lang verbarrikadierte sich der Nationaltrainer, angeblich war er nicht einmal für sein Trainerteam zu erreichen. Als er wiederkam, war er fest entschlossen, den Weg konsequent weiterzugehen.

Er machte weiter Fehler - wie beim 4:4 gegen Schweden, als er es verpasste, der schwedischen Aufholjagd frische Defensivspieler in den Weg zu legen - aber er zog immer die richtigen Schlüsse. So gesehen liess dieser bittere Juni-Abend 2012 den Trainer Löw reifen. Zum Weltmeistertrainer, und vielleicht zu dem Trainer, der mit seinem ganz persönlichen auch das Italien-Trauma einer ganzen Fussball-Nation beerdigt.

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