Rechnen sich die Nordiren heute Abend gegen das DFB-Team bei der Fussball-EM 2016 tatsächlich was aus? Welche Bedeutung hat dieses Turnier für das gesamte Land? Ein Interview mit Nordirland-Experte Dietrich Schulze-Marmeling darüber, wie sehr der Fussball vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden politischen Konflikts eine Gesellschaft für 90 Minuten einen kann.
Nordirland gegen das DFB-Team – es ist das grösste Spiel seit Jahren für das kleine Land mit seinen nicht mal 1,9 Millionen Einwohnern (ab 17:45 Uhr im Live-Ticker).
Wenn die nordirische Mannschaft heute Abend im Prinzenpark von Paris dem Weltmeister gegenüber tritt, steht fast das gesamte Land hinter seinem Team. Das war nach Jahrzehnten blutiger Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken nicht immer so.
Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt Sachbuchautor und Nordirland-Kenner Dietrich Schulze-Marmeling die Bedeutung der EM 2016 für Nordirland und wie die Erinnerung an den legendären George Best die Spieler stärkt.
Herr Schulze-Marmeling, Nordirland hat vor dem abschliessenden Gruppenspiel gegen Deutschland noch alle Chancen. Uns erreichen Bilder riesiger Euphorie im Land.
Dietrich Schulze-Marmeling: Das ist für Nordirland eine Riesen-Sache, alleine schon die erste Teilnahme an einem grossen Turnier seit 1986. Das Problem der Nordiren war bisher die Spaltung der Gesellschaft in ein protestantisches und ein katholisches Lager. Vor Jahren konnte man überhaupt nicht damit rechnen, sich für ein Turnier zu qualifizieren. Jetzt in Frankreich verfolgten sie stets ein Ziel.
Und zwar?
Dass es im letzten Spiel noch um was geht. Das ist ihnen durch den unerwarteten Sieg gegen die Ukraine gelungen. Deshalb ist die Euphorie riesengross.
Gegen Deutschland sind die Chancen überschaubar. Oder können die Nordiren von ihrer Mentalität her gar nicht anders, als sich was auszurechnen?
Fussball ist manchmal ein merkwürdiges Spiel. Von zehn Spielen würde Deutschland sicher neun gewinnen. In Nordirland selber erinnern sie sich jetzt an grosse Duelle mit den Deutschen. Beide Teams begegneten sich in der Qualifikation zur EM 1984 in Frankreich. In beiden Spielen siegte Nordirland. Nur aufgrund des Torverhältnisses ist das DFB-Team zum Turnier gefahren. Heute ist die Ausgangslage natürlich eine andere. Nordirland hat damals zwischen 1982 und 1986 sicher die beste Mannschaft seiner Fussballgeschichte gehabt.
Sie haben die gespaltene Gesellschaft angesprochen. Hat das die Entwicklung des Fussballs gehemmt?
Die allermeisten Katholiken mochten die Nationalmannschaft nicht. Talentierte nordirische Spieler haben sich früher meist für die Nationalmannschaft Irlands entschieden. Im aktuellen irischen EM-Kader stehen zwei nordirische Katholiken, deren Ausbildung noch in Nordirland finanziert wurde.
Umgekehrt haben die Nordiren jetzt Spieler in der Mannschaft wie Conor McLaughlin, Shane Ferguson und Niall McGinn, die Katholiken sind und sich trotzdem für Nordirland entschieden haben.
Wie äusserte sich die gegenseitige Ablehnung beim Fussball?
Das Publikum im Windsor Park, dem Nationalstadion, war immer zu 95 Prozent protestantisch. Bis vor zehn Jahren waren diese Zuschauer gegenüber katholischen Spielern feindlich eingestellt, vor allem dann, wenn sie für Celtic Glasgow spielten. Es gab Anfang des Jahrtausends den Fall Neil Lennon.
Er spielte für Celtic und die Nationalmannschaft, sollte dann sogar die Kapitänsbinde tragen. Doch er hat Morddrohungen von loyalistisch-paramilitärischen Gruppen erhalten, weswegen er seine Nationalmannschaftskarriere beendete. Der Verband musste sich international Vorwürfe gefallen lassen, er würde gegen die antikatholische Stimmung nichts unternehmen. Seither hat sich viel geändert.
Inwiefern?
Es ist ein Mann zu nennen, der heute Offizieller des nordirischen Fussballverbands IFA ist, Michael Boyd, ein Protestant aus Belfast. Er sagte, die Leute sollten nicht mit politischen Symbolen ins Stadion kommen, sondern grüne Trikots tragen. Nach wie vor sind die Katholiken im Stadion in der Unterzahl, ihre ablehnende Haltung gegenüber der Nationalmannschaft haben sie aber abgelegt.
Und die Katholiken weigerten sich lange aus Protest gegen das Vereinigte Königreich?
Viele hatten Probleme damit, dass die Stimmung im Windsor Park loyalistisch-protestantisch geprägt war und dass vor einem Spiel "God save the Queen" gespielt wurde, also die britische Nationalhymne. Auch gegen die Ukraine hat man gesehen, dass einige Spieler diese nicht mitsingen. Es gibt immer wieder Diskussionen, dass das Team eine eigene Hymne bekommen soll. Mancher Spieler hat sich sicher auch deshalb für Irland entschieden, damit er bei der Hymne nicht dasteht und vom ganzen Stadion beobachtet wird.
Warum spielt diese Mannschaft heute einen erfolgreicheren Fussball?
Die Entscheidung, Michael O’Neill zum Nationaltrainer zu machen, war massgeblich. Er ist der erste Katholik seit Ausbruch der Unruhen in den 1960er Jahren, der diese Position einnimmt. Es war ein Signal in Richtung der katholischen Spieler, dass es eine Option ist, für Nordirland zu spielen.
Er ist zudem taktisch sehr versiert. Er ist jemand, der ein Team aufbauen und aufwecken kann. Dann wurde das Ganze zum Selbstläufer. Anfangs bei der EM hatte ich schon den Eindruck, die Mannschaft sei eingeschüchtert, gegen Weltstars wie Robert Lewandowski zu spielen. Gegen die Ukraine sah es dann schon anders aus.
Bei Nordirland denkt man sofort an den grossen George Best, der Frauen um sich hatte, trank und rauchte. Wie ticken die aktuellen Spieler?
Das sind einfache Jungs, die oft im unteren Drittel der 3. Liga in England spielen. Auch die, die aus der Premier League kommen, sind ja erstmal keine Granaten. Dafür sind die Spieler extrem hungrig. Die EM ist für sie das absolute Highlight ihrer Karriere. Der eine oder andere hofft, dass er ein besseres Angebot bekommt. Das treibt sie an. Ansonsten spielen sie natürlich einen schlichten Fussball.
Als Gareth MacAuley das 1:0 gegen die Ukraine köpfte, wirkte es, als wolle er den Ball regelrecht ins Tor schreien.
Es gibt diesen Spruch: Wir sind Nordirland und nicht Brasilien. Sie haben die Mentalität eines Underdog-Teams. Da ist oft viel physische Gewalt hinter den Torabschlüssen. Das Spiel, das Nordirland heute spielt, hat mit einstigen Fähigkeiten eines George Best wenig zu tun.
Ein Superstar, an den sie bis heute gerne erinnern.
Unbedingt. Er hat beide Lager verbunden, weil er bei Manchester United gespielt hat und damit einem Klub, der vor allem bei Katholiken in Nordirland beliebt ist. Er hat sich immer gegen diese Spaltung gestellt, sogar ein gesamtirisches Fussballteam propagiert. Er hat natürlich darunter gelitten, dass er immer in einem Atemzug mit Pele und Franz Beckenbauer genannt wurde, aber nie die grossen Turniere spielen konnte.
Es gibt ja das legendäre Zitat von ihm, die Hälfte seines Geldes habe er für Frauen und Alkohol ausgegeben und die andere Hälfte habe er verprasst.
Er selber hat mal gesagt, dass man sich nach seinem Tod an den Fussballer Best erinnern soll. Er war mehr als dieser versoffene Frauenheld, als der er immer portraitiert wird. Er hatte eine grosse Portion Humor, war ein intelligenter Typ. Er wusste, wie er das Publikum unterhalten kann.
Was können seine fussballerischen Nachfahren an diesem Dienstag den Deutschen entgegenhalten?
Gegen die Ukraine hat O’Neill offensiver gespielt, das kann natürlich gegen Deutschland furchtbar in die Hose gehen. Aber nur den Strafraum zuzumachen, wird auch nicht funktionieren. Es wird spannend sein, zu sehen, für welche Rezeptur sich der Trainer entscheidet.
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