Die UEFA droht Russland wegen Hooligan-Ausschreitungen mit dem Ausschluss von der Fussball-EM 2016 in Frankreich. Nach vereinzelten Auseinandersetzungen in der Nacht auf Mittwoch blieb es bislang aber verhältnismässig ruhig. Dennoch: Ist für die Russen jetzt sogar die Heim-WM 2018 in Gefahr? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Im letzten Gruppenspiel trifft Russland bei der Fussball-EM 2016 auf Wales. Russland muss gewinnen (ab 20:45 Uhr im Live-Ticker), will man sich noch die Chance aufs Achtelfinale wahren. Mit dem Spiel der russischen Mannschaft gehen auch wieder die Sorgen vor erneuten Hooligan-Ausschreitungen einher.
Russland spielt ohnehin bereits auf Bewährung. Bei erneuten Exzessen droht der Turnier-Ausschluss. Manche Experten und Beobachter gehen sogar so weit, dass sie einen Entzug der WM 2018 befürchten.
Ein Blick auf das Hooligan-Problem im russischen Fussball.
Wieso sind gerade die russischen Hooligans so gefährlich?
Russische Hooligans kommen meist aus der rechtsradikalen Neonazi-Szene, mitunter aus kriminellen Milieus, erklärt Hooliganismus-Forscher Prof. Dr. Gunter A. Pilz auf Nachfrage unserer Redaktion. Viele seien Kampfsportler, die nun die EM als Bühne nutzten und bewusst andere Fangruppen attackierten, um sich zu profilieren.
Ein weiterer Punkt: Russische Hooligans sind bestens organisiert. "Die Schläger in Frankreich kamen vor allem von Zenit St. Petersburg, Lokomotive Moskau, Spartak, Torpedo Moskau, Orel und Jekaterinenburg, den berüchtigsten Hooligan-Gruppierungen im russischen Fussball", schilderte Pavel Klymenko von der internationalen Fanvereinigung Fare, einem offiziellen Partner der Uefa, im Gespräch mit "Spiegel Online".
Nicht verwunderlich: Frankreichs Generalstaatsanwalt Brice Robin machte 150 russische Hooligans für die Krawalle im Stadion und in der Stadt Marseille verantwortlich. Sie seien sehr gut vorbereitet gewesen. Dazu gehört, dass die Vorsitzenden von Fangruppierungen oft selbst bekannte Hooligans sind.
Ein Beispiel: Aleksandr Rumjantzew. Er besichtigte im März als Vertreter der organisierten Fans die Spielstätten der "Sbornaja". Pikant: Bis vor kurzem stand er noch der Landskrona vor, der grössten Ultragruppierung von Zenit St. Petersburg. So ist Rumjantzew auch mitverantwortlich für das Manifest von 2012, in dem sich die Hooligans von Zenit gegen dunkelhäutige und homosexuelle Spieler in den Reihen "ihres" Klubs aussprechen.
Reichen die Verbindungen der Hooligans bis in die Politik?
Es ist ein aus Russland bekanntes Phänomen: Muskelbepackte, chauvinistisch wirkende und gewaltbereite Männer pflegen Kontakte bis in den Kreml. Bestes Beispiel ist der Motorradclub "Nachtwölfe", mit dem sich vor allem Präsident
Bei den Hooligans sieht es ähnlich aus. Russlands Sportminister Witalij Mutko feierte das späte 1:1 seines Teams gegen England vor dem Block der russischen Fans in Marseille ausgerechnet in dem Moment, als die Hooligans ihren Angriff auf die englischen Fans begannen. Brisant: Er ist Präsident des russischen Fussballverbandes RFS und sitzt seit Jahren im Exekutivkomitee der FIFA.
Wiederholt negativ fiel indes Alexander Schprygin durch Verharmlosung ähnlicher Vorfälle bei der EM 2012 in der Ukraine und Polen auf. Er wiederum ist der Vorsitzende des Dachverbands russischer Fussballfans (VOB). "Der ganze englische Block ist einfach aufgestanden und weggelaufen. Da gab es keine Schlägereien", meinte Schprygin zu russischen Medien eigenwillig.
Bemerkenswert: Er sitzt im Verbandskomitee des RFS, das sich mit Sicherheitsfragen sowie Fanbelangen beschäftigt. Noch in den Neunzigerjahren war er Recherchen von "Spiegel Online" zufolge ein führendes Mitglied der russischen Neonazi-Szene und einer der Anführer der Dynamo-Moskau-Hooligans.
Bleibt Igor Lebedew. Der stellvertretende Vorsitzende der Duma, des russischen Parlaments, nahm die Hooligans nach den Ausschreitungen in Schutz, twitterte: "Gut gemacht, Jungs." Schprygin wiederum arbeitet Lebedew als parlamentarischer Mitarbeiter zu. Es heisst, Lebedew schütze seinerseits den Dachverband russischer Fans, den Schprygin zu einem Sammelbecken für russische Hooligans gemacht habe.
Wirken sich angedrohte Sanktionen der UEFA aus?
Offenbar. Russland reagiert sichtlich defensiver. Aus Lille, wo die Sbornaja das zweite Gruppenspiel gegen die Slowakei 1:2 verlor, wurden keine nennenswerten Krawalle gemeldet.
Nachts zuvor war es noch zu vereinzelten Auseinandersetzungen mit der französischen Polizei gekommen. Leonid Slutski, Nationaltrainer Russlands, hatte die "Fans" vor dem Spiel gebeten, "sich an die geltenden Gesellschaftsnormen zu halten". Lebedew ruderte ebenfalls zurück, sprach von einer "kalten Dusche" und angesichts der Bewährung durch die UEFA von einer milden Strafe.
Diese hatte als Sanktion mit einem Ausschluss von der EM gedroht. Russlands grösste Sportzeitung "Sport-Express" forderte am Mittwoch indes, das Land müsse die Fangewalt dringend in den Griff bekommen. "Die Anhänger fliegender Fäuste werden sich bis zur WM 2018 nicht in Luft auflösen", schrieb das Blatt. Besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang ein Zitat Mutkos: "Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass sich Ausschreitungen russischer Fans nicht wiederholen werden."
Entzug der WM 2018 in Russland denkbar?
Aktuell wohl nicht. Es hätte eine politische Dimension. Für Putin sind Sport-Grossveranstaltungen Prestigeprojekte. Und auch Englands Verbandschef Greg Dyke warnt in der BBC vor diesem Schritt: "Man kann nicht ganz Russland zur Rechenschaft ziehen, weil ein paar organisierte Schlägertypen gemeinsam für Chaos gesorgt haben."
Experten sind sich indes uneins, wie sie die Hooligan-Szene bewerten sollen. Fan- und Hooliganismus-Forscher Pilz erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion, dass es sich um ein von den Hochzeiten der 1980er- und 1990erJahre losgelöstes Gewalt-Phänomen handle und ein Problem bleiben werde.
Ein deutscher LKA-Beamter wiederum sagte im Gespräch mit "Spiegel Online", dass die EM eine Art "Abschiedsparty" für viele Hooligans Europas werden soll, die letzte Chance, "noch mal richtig auf den Putz zu hauen".
Seiner Meinung nach wird es bei der WM 2018 kaum Zusammenstösse geben. Dafür seien die russischen Sicherheitsbehörden zu rigide und die harten Gesetze zu abschreckend.
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