Italien besiegt bei der Fussball-EM Favorit Belgien und straft alle Kritiker Lügen. Die Squadra Azzurra erweist sich als typisch italienisches Taktik-Meisterwerk. So ist mit der Mannschaft von Antonio Conte zu rechnen. Im Viertelfinale könnte es zu einem Duell mit Deutschland kommen. Ist Italien wieder unser Angstgegner?
Gianluigi "Gigi" Buffon hat es vorsichtshalber schon mal angekündigt. Es werde wohl seine letzte Fussball-EM sein, meinte der Torwart von Juventus Turin vor dem Turnier in Frankreich.
Buffon geht dem Team voran
In Italien holte Buffon, mittlerweile 38 Jahre alt, 16 Titel, 2006 wurde er in Deutschland Weltmeister, 1998/99 mit dem AC Parma Uefa-Pokal-Sieger. Die Champions League gewann er nie, trotz zweier Final-Teilnahmen (2002/03, 2014/15).
Auch bei der EM reichte es nie für den Titel. 2012 stoppte er mit Italien im Halbfinale zwar das favorisierte DFB-Team, doch im Finale hatte die Squadra Azzurra keine Chance gegen das seinerzeit alles dominierende Spanien.
Vor der EM 2016 traute so niemand der einstigen Fussball-Grossmacht so richtig etwas zu. Antonio Conte, der Trainer, sei in Gedanken schon bei seiner kommenden Aufgabe, dem FC Chelsea, hiess es aus der Heimat. Italien fehlen auf der zentralen Position mit Marco Verratti (Leisten-OP) und Claudio Marchisio (Kreuzbandriss) zudem die beiden Spielgestalter.
Und der einst geniale Andrea Pirlo ist mit seinen mittlerweile 37 Jahren selbst zu alt für eine Mannschaft, die am Montagabend gegen Belgien einen Altersdurchschnitt von 31,5 Jahren hatte – und damit den ältesten eines Teams, das je in einem EM-Spiel auflief.
Gegen jede Erwartung
Seit just jenem Abend aber hat sich die Wahrnehmung schlagartig geändert. Italien bezwang mit viel Leidenschaft den EM-Mitfavoriten Belgien 2:0. Buffon wurde zum grossen Helden im Netz, als er nach Spielschluss über den Platz stürmte, sich voller Enthusiasmus beim Jubeln an der Latte hochzog, ausrutschte – und auf den Boden knallte.
"Es war eine schöne Überraschung. Wir haben alles gegeben, was wir konnten. Es war unerwartet", sagte er nach dem Sieg im Gespräch mit der ARD und antwortete auf seinen Latten-Faux-pas angesprochen: "Es war ein Augenblick der grossen Emotion. Die Latte war etwas rutschig und ich bin ausgerutscht. Ich habe aber nichts gespürt, der Adrenalinspiegel war so hoch."
ARD-Experte Mehmet Scholl deutete prompt an, dass mit den Italienern entgegen aller Erwartungen zu rechnen sei. Seine Begründung: "Bei Turnieren sind sie einfach da!"
Italienische Qualitäten
Italien als Mitfavorit zu benennen, ist nachvollziehbar. "Wir haben typisch italienische Qualitäten gezeigt: Opferbereitschaft, Demut, Fitness und Lust", sagte Innenverteidiger Leonardo Bonucci nach der Partie. Er war es, der mit einem sagenhaften Zuspiel das 1:0 durch Emanuele Giaccherini vorbereitete.
Die Eigenschaften, die er nannte, waren gegen inspirationslose Belgier Erfolgsfaktoren. Sie entluden sich nicht nur im Jubellauf Buffons. Das Team feierte mit seinen Fans, als hätte sie gerade das Finale erreicht.
Es sind die viel beschriebenen Emotionen im Fussball, die eine Mannschaft tragen können. Eine Mannschaft, die taktisch so viel mehr zu bieten hat. Conte, der einst Juventus Turin zurück zu alter Stärke führte, gilt als erwiesener Taktik-Experte.
Gegen Belgien spielte er mehrere Raffinessen aus. Zum einen war da eine Mischung aus Pressing- und Gegenpressing, wie man es allenfalls aus der Schule Jürgen Klopp kennt.
Die Taktik des italienischen Kaders
Sie war gepaart mit einem diszipliniert defensiven Verhalten, wie es bei diesem Turnier noch nicht zu sehen war. Oft verschoben die Italiener bei eigenem Ballverlust unmittelbar mit zehn Mann hinter den Ball, sprich vor die Belgier.
Diese trafen zuerst auf ein Konstrukt aus unermüdlich anrennenden Stürmern, wie den später eingewechselten Ex-Dortmunder Ciro Immobile, und einem extrem kompakten Mittelfeld.
Schliesslich verschoben die beiden Aussen Antonio Candreva und Matteo Darmian bei belgischem Ballbesitz nach hinten, wodurch aus der Dreier-Abwehr mit Andrea Barzagli, Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini eine kaum überwindbare Fünferkette wurde.
Durch den Sieg und das 1:1 zwischen Schweden und Irland hat Italien nun eine glänzende Ausgangsposition.
Deutschland gegen Italien. Müssen wir uns fürchten?
Würde die Squadra Azzurra die Gruppe E als Erster beschliessen und Deutschland die Gruppe C gewinnen, könnten beide Teams im Viertelfinale aufeinandertreffen. Die Zeiten, als Italien als Angstgegner galt, sind jedoch vorüber. Trotz der Niederlage des DFB-Teams im Halbfinale 2012.
Das hat zuletzt das 4:1 im März in München gezeigt. Deutschlands Offensive bekäme mit der unbequemen Fünferkette sicher Probleme, doch darf nicht vergessen werden, dass die Abwehr der Belgier bei weitem nicht zur Weltklasse zählt.
Das sieht bei der deutschen Innenverteidigung um Jerome Boateng und Mats Hummels, der sich für das Gruppenspiel gegen Polen fit meldete, anders aus. Der italienische Sturm um Torschütze Graziano Pellé (2:0) und Immobile stünde vor einer ungleich schwierigeren Aufgabe.
Dennoch wären die Italiener der erwartet undankbare Gegner, auch durch ihre harte Gangart mit vielen Fouls. Schliesslich gibt es da noch Buffon zwischen den Pfosten. Mit Italien ist zu rechnen. Das verdeutlicht nicht zuletzt der Schlusssatz von Trainer Conte im Gespräch mit der ARD: "Diese Mannschaft wird in die Geschichte eingehen."
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