Der Test gegen Ungarn ist zwar geglückt - er gibt Joachim Löw aber nur bedingt Aufschluss bei einigen einige Kernfragen. Der Bundestrainer hat immer noch einige Baustellen.

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Julian Draxler kam als Letzter aus der Kabine, und als der gebürtige Gelsenkirchener mit dem besonders kurzen Nach-Hause-Weg noch ein paar Fragen beantwortete, war der Grossteil seiner Teamkollegen bereits unterwegs in den Mini-Urlaub.
Joachim Löw hat seiner Mannschaft zwei freie Tage verordnet, bevor es am Dienstag dann nach Frankreich geht. Die Spieler sollen ausspannen, nochmal auf andere Gedanken kommen.

Löw und sein Trainerteam dagegen werden sich bis zum Abflug mit einigen Problemen herumschlagen müssen - und das eine oder andere vielleicht sogar bis weit ins Turnier hinein mit sich herumschleppen. Eine Bestandaufnahme nach der Vorbereitung.

Wie schliesst Löw die Dauerbaustellen?

Im Angriff und rechts in der (Vierer-)Kette hat Deutschland nicht erst seit gestern ein Problem. Spätestens nach dem Rücktritt von Miroslav Klose fehlt dem DFB ein Angreifer von absolutem Weltklasseformat in der Spitze. Und Klose selbst war in den letzten Momenten seiner Karriere mehr Gelegenheitsarbeiter als Stammspieler. Immerhin hat Mario Gomez zu alter Stärke zurückgefunden, der 30-Jährige startet als Torschützenkönig und türkischer Meister mit genügend Selbstvertrauen seine zweite Karriere im DFB-Dress. Bleibt die Frage, ob Löw auf ein Spielsystem mit Gomez als Keilstürmer setzt oder doch wieder auf die falsche Neun zurückgreift, die dann in der Regel Mario Götze bekleiden dürfte.

Rechts hinten hat Löw mit Sebastian Rudy die naheliegende Option für eine Vierer- oder Dreierkette nach Hause geschickt. Rudy hatte in den Testspielen dieses Jahres rechts hinten gewirkt und das gar nicht mal schlecht. Jetzt benötigt Löw wieder eine Alternative. Diese könnte Joshua Kimmich heissen. Der ist gelernter Mittelfeldspieler und hat bei den Bayern auch im Abwehrzentrum ausgeholfen - rechts hinten hat er noch nie auf Top-Niveau gespielt. Benedikt Höwedes durfte gegen Ungarn ran, zeigte da aber neben seinen gewohnten Defensivstärken auch seine Schwächen im Vorwärtsgang.

Was wird aus Bastian Schweinsteiger?

Bastian Schweinsteiger war vor dem Ungarn-Test seit Anfang Januar bei ManUnited 51 Minuten auf drei Pflichtspiele verteilt auf dem Platz gestanden. Gegen die Ungarn kam der Kapitän wenigstens 22 Minuten zum Einsatz. Zeigen konnte er in der kurzen Zeit kaum etwas. Was bleibt, ist die Ungewissheit.

Niemand weiss so genau, wie fit Schweinsteiger wirklich ist. Im Trainingslager in Ascona wirkte der Routinier nicht besonders austrainiert, einige würden behaupten, Schweinsteiger hätte ein paar Kilo zu viel auf den Rippen. Das ist wohl noch am ehesten in den Griff zu bekommen. Wie weit die zentrale Figur dieser Mannschaft fussballerisch schon wieder ist, wie er den Rhythmus mitgehen und sogar bestimmen kann, wie viel Wettkampfhärte er mitbringt, ist weiter offen. Löw wird sich Gedanken machen müssen, wie weit und wann überhaupt er seinen Kapitän zu einer zentralen Figur machen kann. Der Spieler selbst ist ganz zuversichtlich. "25 bis 30 Minuten geht es schon ganz gut. Aber 90 Minuten im ersten Spiel, das geht eher nicht. Aber ich konnte vor der EM mehr machen als vor zwei Jahren vor der WM."

Wie sieht die Innenverteidigung aus?

Jerome Boateng ist selbstverständlich gesetzt. Das wäre auch Mats Hummels gewesen, hätte er als Andenken an das Pokalfinale nicht einen Faserriss in der Wade mit ins Trainingslager nach Ascona geschleppt. Ein Einsatz des Bald-Bayern in der Gruppenphase scheint fast ausgeschlossen. Das bedeutet erneut grössere Umbauarbeiten für Löw.

Das bei der WM vor zwei Jahren gut harmonierende Duo der beiden besten deutschen Innenverteidiger ist gesprengt und muss neu bestückt werden. Antonio Rüdiger durfte nicht nur in den bisherigen drei Testspielen des Jahres ran, sondern nun auch gegen die Ungarn komplett durchspielen - mehr als ein Fingerzeig vom Bundestrainer. Löw setzt auf den Römer neben Boateng, auf dessen körperliche Robustheit, die Kopfballstärke und seine durchaus mutige Spieleröffnung.

Löw kennt aber auch Rüdigers Schwächen: Dass der 23-Jährige sich immer mal wieder einen Aussetzer leistet oder unkonzentriert wirkt. Da macht sich Rüdigers Unerfahrenheit bemerkbar. Trotzdem sieht Löw Rüdiger klar vor anderen Kandidaten wie Kimmich, Shkodran Mustafi oder Höwedes. Man kann davon ausgehen, dass sich daran bis zum ersten Spiel gegen die Ukraine auch nichts mehr ändern wird.

Welches Spielsystem ist das beste?

Löw hat sich im Laufe der Jahre eine breite Basis an Grundsystemen erarbeitet, die die Mannschaft auf Knopfdruck umsetzen kann. Vom klassischen 4-2-3-1 mit Ball über ein 4-1-4-1 und ein 4-3-3 bis hin zu einer Dreierkette im 3-5-2 war zuletzt alles dabei.
Gegen den Sechser-Abwehrriegel der Ungarn holte Löw mal wieder die Variante im 4-2-3-1 mit der falschen Neun Mario Götze raus. Ähnlich wie die kleinformatigen Ungarn dürfte der DFB auch die Ukraine und besonders im letzten Spiel die Nordiren erwarten. Einzig die Polen dürften offensiver agieren und mitspielen.

Das 4-2-3-1 gilt als das konservative DFB-Modell und als wahrscheinlichste Variante. Abwandlungen sind je nach Gegner und Spielsituation zu erwarten.

Wie gut ist die Defensive?

Seit dem 7:0 über Gibraltar vor fast genau einem Jahr konnte die Mannschaft nicht mehr zu Null spielen. In jedem der acht folgenden Spiele (Qualifikations- und Testspiele) gab es mindestens einen Gegentreffer, insgesamt waren es 14 - das sind für Deutschlands Ziele viel zu viele.

Jetzt klappte es immerhin mal wieder. Die Ungarn waren an und für sich keine grosse Bedrohung - trotzdem erlaubte ihnen die deutsche Mannschaft zwei sehr gute Möglichkeiten zum Torerfolg. Die Sorglosigkeit im Defensivverhalten der gesamten Mannschaft bleibt ein treuer Begleiter.

Aber: Löws Credo, wonach Defensivabläufe leichter einzustudieren seien als die in der Offensive, hat die Mannschaft bei den letzten Turnieren fast immer auch entsprechend mit Leben gefüllt. Die Ungarn jedenfalls waren kein Gratmesser. Von dieser ersten Partie in dieser Saison ohne Gegentreffer sollte man sich nicht blenden lassen.

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