Österreich gilt als das Land der Wintersportler, die Fussball-Nationalmannschaft hingegen wurde meist belächelt. Doch der Kader war noch nie so stark besetzt wie bei dieser Europameisterschaft. Das ÖFB-Team kann in Frankreich für eine Überraschung sorgen.

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Für Fussballfans aus Österreich gab es die letzten Jahrzehnte keinen richtig guten Grund, sich auf ein Grossturnier zu freuen. Seit 1968 hat sich die Nationalmannschaft sportlich für keine Europameisterschaft mehr qualifiziert. 2008 waren sie als Gastgeber automatisch dabei und scheiterten sieglos in der Vorrunde. Auch die letzten vier Weltmeisterschaften fanden ohne die ÖFB-Auswahl statt.

Doch das ist alles Vergangenheit! Trainer Marcel Koller hat aus Österreich eine ernstzunehmende Fussball-Nation gemacht. Als er im November 2011 das Amt übernahm, rangierte Österreich in der FIFA-Weltrangliste auf Position 72. Selbst Fussball-Zwerge wie Simbabwe standen weiter vorne. Mittlerweile ist die ÖFB-Auswahl in die Top-10 vorgedrungen.

Koller setzt auf Kontinuität

Der 55-Jährige setzt auf Kontinuität. Die meisten Leistungsträger sind seit seinem Amtsantritt dabei. Selbst bei zwischenzeitlichen Formtiefs hält Koller an seinen Spielern fest. Die logische Folge: Kaum eine Mannschaft bei der Europameisterschaft ist so eingespielt wie Österreich.

Überhaupt gilt der Mannschaftsgeist als grosse Stärke. Koller ist ein Trainer, der viel Ruhe ausstrahlt und sich Zeit für jeden einzelnen Spieler nimmt. Sogar Spieler wie Marko Arnautovic, der lange als schwieriger Charakter, ordnen sich unter.

Offensivspieler Martin Harnik verrät gegenüber der Sport Bild: "Wir respektieren uns nicht nur auf und neben dem Platz, sondern schätzen uns gegenseitig. Das war vorher nicht immer der Fall."

Auch die individuelle Qualität der Österreicher ist nicht zu unterschätzen. Mit David Alaba steht ein Spieler von Weltformat im Kader. Beim FC Bayern München wurde er meist in der Verteidigung eingesetzt. In der Nationalmannschaft fungiert er als Mittelfeldspieler. Mit seiner exzellenten Schusstechnik kann er Spiele alleine entscheiden.

Spieler sind Weltklasse-Fussball gewohnt

Überhaupt verdienen viele österreichische Nationalspieler in Deutschland ihr Geld. 15 der 23 Spieler sind in der 1. oder 2. Bundesliga aktiv. Stürmer Lukas Hinterseer, der beim FC Ingolstadt spielt, sagt in der Sport Bild: "Wir haben mittlerweile vielleicht auch ein bisschen die deutsche Mentalität aufgesaugt: stets akribisch vorbereitet und fokussiert, immer alles aus sich herausholen, sich verbessern und gewinnen wollen."

Torwart Robert Almer ist der einzige Akteur, der in der heimischen Liga spielt. Vier sind in der englischen Premier League aktiv, zwei in der Super League der Schweiz, einer in der Ukraine. Das heisst: Fast alle Nationalspieler sind Weltklasse-Fussball gewohnt.

Die taktischen Vorgaben des Trainers Koller, der Wert auf aggressives Pressing und hohe Ballkontrolle legt, werden perfekt umgesetzt. Mannschaften, die sehr offensiv agieren und viel Ballbesitz haben, liegen der Nationalmannschaft besonders. Das schnelle Konterspiel macht sie gefährlich. Fitnesstrainer Roger Spry kündigte schon einmal an, dass Österreich das fitteste Team der Europameisterschaft sein wird.

Gegner genauestens analysiert

Marcel Koller dürfte für die drei Gruppengegner Ungarn, Portugal und Island individuelle Masterpläne ausgearbeitet haben. "Wir wollen unsere Gegner bei der EM überraschen. Ich habe 55 Matches der Gegner analysiert", kündigt er im Interview mit der österreichischen Tageszeitung "Heute" an.

Sicher ist: Mit der erfolglosen Nationalmannschaft von 2008 hat die derzeitige Auswahl wenig gemeinsam. Der Ex-Schalker Christian Fuchs verrät gegenüber dem "Kicker": "Damals mussten wir uns nicht qualifizieren. Nur wenige Spieler hatten Auslandserfahrungen. Wir waren schon froh, uns mit grossen Namen messen zu dürfen. Die jetzige Truppe ist dagegen gewachsen, viele feierten mit ihren Klubs grosse Erfolge." Er selbst wurde mit Leicester City englischer Meister.

Die erfolgreiche Qualifikation könnte ein Vorgeschmack auf die Europameisterschaft gewesen sein. Die ÖFB-Auswahl blieb in zehn Spielen ohne Niederlage. Ein Highlight war das 4:1 gegen Schweden. Beeindruckend: Mit 28 Punkten hatte Österreich nach England die zweitbeste Ausbeute aller europäischen Nationen.

Sorgen macht lediglich, dass nach der EM-Qualifikation ein kleiner Spannungsabfall stattfand. In den vergangenen fünf Testspielen gab es zwei Siege und drei Niederlagen, zuletzt ein 0:2 gegen die nicht qualifizierte Niederlande. Problem war die Chancenauswertung. Fuchs blieb gelassen: "Wir waren stärker, als es im Ergebnis zum Ausdruck kommt."

Die Zuversicht ist also ungebrochen. Mit der individuellen Qualität, der mannschaftlichen Geschlossenheit und Taktik-Fuchs Marcel Koller zählt die ÖFB-Auswahl zu den Geheimfavoriten. Und das Wichtigste: Die Fussballfans aus Österreich haben endlich wieder einen Grund, sich auf ein Grossturnier zu freuen.

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