Die EM 2016 ist vorbei und hat mit Portugal einen Sieger gekürt, der voll zum Trend des unscheinbaren Turniers passt. Die Gründe für das maue Niveau sind vielfältig, die meisten davon hausgemacht. Das lässt für die kommenden Veranstaltungen nichts Gutes erahnen. Es gibt aber auch ein wenig Hoffnung.

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Eine gewagte These: Der Ausfall von Cristiano Ronaldo im Finale gegen Frankreich hat Portugal den Weg zum ersten grossen Titel in der Geschichte erst ermöglicht. Natürlich ist der Superstar die Lichtgestalt der Selecao und macht durch seine blosse Anwesenheit jede Mannschaft auf der Welt gleich noch ein ganzes Stück besser und gefährlicher für den Gegner.

Aber Ronaldos persönliches Schicksal bekräftigte die als Aussenseiter in das grosse Spiel gegangenen Portugiesen noch einmal mit Nachdruck in ihrer grundsätzlichen Marschrichtung: Mit CR7 wollte Portugal den Franzosen den Ball überlassen, "kompakt stehen" und dann nach Ballgewinnen im Mittelfeld schnell und schnörkellos nach vorne spielen.

Oder, wie Trainer Fernando Santos vor dem Spiel sagte: "Wenn sich morgen jeder darüber aufregt, dass wir nicht schön, aber erfolgreich gespielt und gewonnen haben - das wäre schön!"

Defensive schlägt Offensivkonzepte

Portugal hat weder schön gespielt noch, mit Ausnahme von Ronaldo, einen Ausnahmekönner in seinen Reihen gehabt. Der neue Europameister hat sich seinen Titel mit einfachsten Mitteln erarbeitet, mit sehr viel konzentrierter Defensivarbeit, ein bisschen Offensive, ein bisschen Ronaldo und ein bisschen Glück.

Grosse Turniere haben es früher vorgesehen, dass dort stilbildende Elemente neu entdeckt und für die Weiterentwicklung des Fussballs genutzt wurden. Mittlerweile findet die Avantgarde längst in den Klubmannschaften und -wettbewerben statt, die Turniere auf Verbandsebene sind lediglich noch die logische Fortführung dessen, was von August bis Mai in den grossen Ligen Europas angeboten wird.

Der Zyklus hat dabei in den letzten zwei Dekaden einen Wechsel zwischen Offensiv- und Defensivstrategien vorgesehen, mal setzten sich neue Ideen und Impulse im Offensivspiel durch, mal defensive Grundkonzepte. Und dementsprechend auch die jeweiligen Titelträger. Nach furiosen Jahren mit den Spaniern und danach Deutschland kippte die Bewegung nun wieder in die andere Richtung.

Fast schon zwangsläufig setzte sich bei der EM also eine Mannschaft durch, die eine defensive Strategie bevorzugte und macht damit die Sinuskurve perfekt: Vor Spaniern und Deutschen triumphierten mit Italien und Griechenland bei WM und EM zwei Nationen, die besser verteidigen als angreifen konnten.

Die Reaktionen auf das Ballbesitz- und Positionsspiel der grossen Klubs und Nationen war eine Frage der Zeit, das schnelle Umschalten nach Gegenpressing war nur ein erster Ausläufer und wurde bei dieser EM schon wieder überholt. Das aufgeblähte Turnier schaffte einen Rahmen, der dem sportlichen Wert der Veranstaltung nicht besonders zuträglich war.

Favre: "Qualität war ein Horror"

Sein Modus und die Tatsache, dass einige kleine und spielerisch limitierte Nationen den Weg nach Frankreich schafften, waren die Saat für zu viel langweilige Partien, die alle nach demselben Schema abliefen: Mannschaft A greift an, Mannschaft B verteidigt fast ausschliesslich und hofft vorne auf einen Standard oder den lieben Gott. Das ist legitim, ermattet den Zuschauer aber und lässt Experten schaudern.

"Die Qualität der Spiele war einfach zu schlecht. Vor allem die Gruppenphase war unfassbar langweilig, ein Horror", motzte Lucien Favre in einem Interview mit dem "Spiegel" und sprach vielen damit aus dem Herzen. "Diese Flut an Spielen, zu vieles, was sich wiederholte, und zu wenig, was Begeisterung und Spannung erzeugte. Wenn die UEFA eine EM mit 24 Mannschaften spielen lässt, hat das bestimmt wirtschaftliche Vorteile. Aber dem Spiel schadet es."

Das ist eine wichtige Erkenntnis, auch im Hinblick auf kommende Turniere. Die FIFA denkt ebenfalls über eine Ausweitung der WM nach, auf 40 teilnehmende Mannschaften! "Sind die denn alle verrückt? Die Zuschauer sind doch nicht dumm. Und spätestens dann, wenn sie die Nase so voll haben von langweiligen Partien, die kein Tempo und keinen Esprit haben, wird es einen grossen Knall geben. Das wird nicht mehr lange dauern", ist sich Favre sicher.

Spieler sind am Limit

Die Spieler würden schlicht verheizt, niemand wäre am Ende einer Saison noch in der Lage, Höchstleistungen zu erbringen und mental nochmals hochzufahren. Die Folge sind mittlerweile schon Spieler, die am absoluten Limit agieren. Sie konzentrieren sich in ihren Klubs auf Meisterschaften, die Europa League, die Champions League und sollen dann inklusive Vorbereitung in sechs, sieben Wochen noch für ihr Land auf den Punkt taufrisch sein.

Antoine Griezmann spielte gegen Portugal sein 70. Pflichtspiel in dieser Saison. Griezmann mag als Torschützenkönig als Gegenbeispiel für die These gelten, auf den zweiten Blick ist er genau das aber nicht. Nicht zu übersehen waren seine Defizite im Finale, wo immer ein Schrittchen fehlte, er falsch stand oder mit seinen Chancen am Torhüter scheiterte. Oder Thomas Müller: jahrelang die Beständigkeit in Person, eine Bank. Und nun: völlig neben sich, ausgelaugt, ohne Esprit.

Und es soll sogar Experten geben, die Ronaldo bei dessen Verletzung zu wenig Körperspannung attestierten, einen Moment der Unachtsamkeit. Dass der Portugiese, der noch nie ernsthaft verletzt war, ausgerechnet das grösste Spiel seiner Karriere nach acht Minuten quasi beenden musste, sei nicht nur eine böse Fügung des Schicksals gewesen.

Die Stunde der Fehlervermeider

Wenn die Kreativen erschlaffen, schlägt die Stunde der Spielverhinderer und Fehlervermeider. Das oberste Gebot lautet: Mach bloss nicht den ersten Fehler! Und so trudeln viele Spiele dann einfach so vor sich hin. Der UEFA ist das aus anderen Gesichtspunkten völlig egal, sie dürfte rund ein Drittel mehr Einnahmen erwirtschaftet haben als bisher bei einer EM. Dass der Sport auf der Strecke bleibt und mit ihm die, die ihn lieben, ist fürs Erste offenbar zu verkraften.

Die Veranstalter grüssten nach dem Finale den Initiator der Europameisterschaft auf der Videoleinwand. "Merci pour tout Michel" ("Danke für alles, Michel"), stand da geschrieben und daneben das Konterfei von Michel Platini. Die Fans im Stadion pfiffen. Das mag vielleicht nicht richtig gewesen sein, es drückte aber das Empfinden der Fans auf einfachste Weise und unmissverständlich aus.

Rein inhaltlich wird nicht viel bleiben von dieser EM. Die Defensivstrategien haben gesiegt und am Ende triumphiert eine Mannschaft, die den grössten Star und besten Einzelspieler des Turniers in seinen Fähigkeiten beschneiden und in das Kollektiv einbinden musste. Damit ist eigentlich alles auf einen einfachen Nenner gebracht.

Im Hinblick auf die umstrittenen Welt-Turniere in Russland und Katar und der zerrupften Länder-EM in vier Jahren mit 13 Gastgebern sind das keine vergnüglichen Aussichten.

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