So bitter das vorzeitige EM-Aus gegen Spanien auch ist: Der Nationalmannschaft steht eine gute Zukunft bevor. Der Bundestrainer muss dazu harte Entscheidungen treffen. Man sollte ihm die dafür notwendige Zeit geben.

Pit Gottschalk
Eine Kolumne
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Die Enttäuschung sass tief beim Bundestrainer. Julian Nagelsmann kämpfte vor der ARD-Kamera mit den Tränen, er rang um Worte und suchte nach Argumenten, warum Deutschland gegen Spanien im EM-Viertelfinale ausgeschieden ist. Ihm ging das vorzeitige Turnier-Aus nahe.

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Das Handspiel von Marc Cucurella, das Schiedsrichter Taylor im Strafraum ignoriert hat, ist die eine Erklärung. Die andere: Die Nationalmannschaft ist noch nicht so gereift, wie man das vielleicht nach vier EM-Spielen mit drei Siegen und 10:2 Toren geglaubt hatte.

Spanien war Deutschland überlegen und hat, wenn man ehrlich ist, verdient 2:1 n.V. gewonnen. Nagelsmann kann nichts dafür. Man muss ihm dankbar sein, was er seit seinem Amtsantritt im Herbst geschafft hat. Nationalmannschaft und Fussballfans sind wieder miteinander versöhnt.

Man vergisst schnell, wie kaputt die Beziehung vor wenigen Monaten noch war. Deutschland mochte diese Nationalmannschaft nicht: abgehoben, kommerziell, zerrissen - man kann die Liste mit passenden Attributen endlos fortsetzen. Die meisten fürchteten das Schlimmste für die EM.

Nagelsmann muss wichtige Personalentscheidungen treffen

Heute sieht die Welt anders aus. Nach Abpfiff dankte das Publikum im Stuttgarter Stadion den Spielern mit Applaus. Auch dem Bundestrainer. Kroos-Rückkehr, Hummels-Aus, ein stabiles Gerüst für die Mannschaft, Rollenverteilung und Teamgeist: Er hat so viel richtig gemacht.

Mehr ging in dieser kurzen Zeit vielleicht nicht. Die Lage hat sich geändert: Nagelsmann hat zwei Jahre Zeit, eine neue, nämlich seine Nationalmannschaft aufzubauen. In zwei Monaten steht das nächste Länderspiel an. Nations League, danach WM-Qualifikation: Der Terminkalender ist eng.

Alles hat ein Ziel: die Nordamerika-WM 2026. Dazu gehören wichtige Personalentscheidungen, die Nagelsmann treffen muss. Die allerwichtigste: Wer wird der Nachfolger von Toni Kroos im Mittelfeld? Es ist keiner in Sicht. Joshua Kimmich ist es nicht; er wird weiterhin rechts auf der Seite gebraucht.

Auch die Torhüterfrage muss jetzt ein für allemal geklärt werden: Die Zeit von Manuel Neuer, 38 Jahre alt, ist endgültig vorbei. Soll Marc-André ter Stegen, inzwischen 32, als Übergangslösung herhalten? Oder sofort eine Zukunftslösung ins Tor - zum Beispiel Alexander Nübel?

Wird Leon Goretzka zurückkehren?

Nach Toni Kroos werden vermutlich auch Manuel Neuer und Thomas Müller zurücktreten: Damit stünden die letzten Weltmeister von 2014, die noch da waren, nicht mehr zur Verfügung. Auch hier muss Nagelsmann schnellstens Klarheit schaffen: Wie sieht in Zukunft die Hierarchie aus?

Ist Ilkay Gündogan der Kapitän, an dem sich eine Mannschaft in Krisenmomenten aufrichtet? Muss womöglich doch Leon Goretzka zurückkehren? Wie entwickelt sich Joshua Kimmich weiter? Es gibt tausend Fragen, mit denen sich Nagelsmann in der Sommerpause beschäftigt.

Wir Fans und Experten wissen nur: Mit seiner Arbeit in den vergangenen neun Monaten hat sich Julian Nagelsmann bestens qualifiziert für den Neuaufbau der Nationalmannschaft. Es wird Rückschläge geben, gar keine Frage. Aber er hat den Vertrauensvorschuss mehr als verdient.

Über den Autor

  • Pit Gottschalk ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chefredakteur von SPORT1. Seinen kostenlosen Fussball-Newsletter Fever Pit'ch erhalten Sie hier.
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