Die Fussball-EM 2024 in Deutschland steht vor der Tür. Bei den vergangenen Turnieren gingen viele Teams sehr konservativ an den Start, spielten selten riskant. Auch diesmal?
In Deutschland soll im Sommer 2024 das nächste Fussballfest stattfinden! Volle Stadien, schönes Wetter, gute Stimmung, ein DFB-Team, das sich rundherum verbessert zeigt und sehenswerter Fussball mit vielen Toren, darauf fiebern die Fans in ganz Europa hin! Ein "Sommermärchen 2.0" sozusagen. Das Turnier ist hochkarätig besetzt, es gibt einige Teams, die zu den Turnierfavoriten zählen und einige der besten Spieler der Welt werden zu sehen sein.
So unterhaltsam waren vergangene EM-Endrunden
Können sich Fans also auf vier Wochen voller Spektakel freuen? Nicht unbedingt.
Traditionell sind Europameisterschaften im modernen Fussball unterhaltsam. Beim Turnier 2000 in den Niederlanden und Belgien fielen 2,74 Tore pro Partie, vier Jahre später in Portugal waren es 2,48, genau wie 2008 in Österreich und der Schweiz. 2,45 Tore pro Spiel fielen 2012 in Polen und der Ukraine. Anschliessend veränderte die UEFA aber die Zusammenstellung des Turniers, aus 16 Teilnehmern wurden 24.
Das sorgte dafür, dass fortan in sechs Gruppen gespielt wurde, aus denen die Achtelfinalteilnehmer hervorgingen. 16 Teams, die sich aus sechs Gruppen qualifizierten, bedeuteten automatisch: Es kommen auch vier Gruppendritte weiter. Das veränderte die Herangehensweise. Plötzlich war es deutlich interessanter, destruktiver zu spielen, weil weniger Punkte für das Weiterkommen reichen konnten.
Das spielte einerseits einigen Aussenseitern in die Karten, aber auch grössere Nationen profitierten. Portugal beispielsweise reichten drei Unentschieden 2016, um in das Achtelfinale einzuziehen und später den EM-Titel zu holen. Mit nur einem Sieg nach 90 Minuten im gesamten Turnier. Hier waren die Auswirkungen der Veränderungen auch zu spüren: Nur 2,12 Tore pro Partie konnten erzielt werden. 2021 unter den gleichen Voraussetzungen war aber mehr geboten, die Quote der Tore pro Spiel lag bei 2,78. Doch genug der Zahlenspielerei.
Nationenturniere generell eher konservativ
Torfestivals en masse sind bei Turnieren der Nationalmannschaften eher selten. Das liegt in der Natur der Sache, denn einerseits treffen regelmässig Aussenseiter, die sehr defensiv spielen, auf Favoriten, die sich damit schwertun. Andererseits ist die Risikobereitschaft geringer, wenn nur drei Gruppenspiele über Weiterkommen oder Ausscheiden entscheiden. Ein Fehler zu viel kann dafür sorgen, dass ein Spiel verloren geht.
Clemens Zulehner (Co-Trainer beim LASK in Österreich), mit dem wir uns vor dem Turnier unterhalten haben, sieht das ähnlich, schränkt aber ein: "Turniere, gerade auf Nationalmannschaftsebene, sind eher durch die konservative Spielweise gekennzeichnet. Das ist häufig, aber nicht immer so. Wenn man auf den internationalen Fussball schaut, sieht man, dass sehr viele Tore in den Europapokalwettbewerben gefallen sind. International wurden viele attraktive Spiele abgeliefert, deswegen wird es in diesem Jahr besonders interessant."
Torreiche EM 2024? Die Vorzeichen sprechen nicht dafür
Doch setzt sich der Trend aus dem Europapokal fort? Analyst und Taktikblogger Benny Grund ist da eher skeptisch. "Bei einem Turnier ist vieles vom Momentum abhängig. Für viele Teams ist es wichtig, erst einmal kompakt zu stehen, das hat man sogar bei der DFB-Elf gegen die Ukraine gesehen, als das Pressing intensiv war. Da war es wichtiger, erst einmal die Null in der Abwehr zu halten."
Gründe für diese Herangehensweise gibt es einige. "Auf Nationalmannschaftsebene hat man weniger Zeit, um Dinge einzustudieren, sodass man sich häufig auf die natürlichen Stärken innerhalb der Mannschaft beruft. Zudem ist ein Faktor, dass es nicht so viele derart gute Trainer wie im Vereinsfussball gibt. Deswegen werden wir sehr wahrscheinlich mehr Nationalmannschaftsfussball sehen, also Kompaktheit, enge Räume, Umschaltspiel und Konter", so Grund.
Das bedeutet, dass Risikominimierung wieder vermehrt im Fokus stehen dürfte. Einige Gruppen sind derart eng und schwer vorherzusehen, dass es wichtiger ist, Niederlagen zu vermeiden als gnadenlos auf Sieg zu spielen.
Lesen Sie auch: Das EM-Auftaktspiel Deutschland - Schottland im Live-Ticker
EM 2024: Warum es trotzdem viele Tore geben könnte
Trotz allem begeistert der Fussball gerade deswegen so viele Fans, weil er im Endeffekt unberechenbar ist. Theorie und Praxis stimmen oft, aber nicht immer überein. Ja, es ist wahrscheinlich, dass einige Nationen vor allem in der Gruppenphase auf Kompaktheit und schnelle Gegenangriffe setzen werden. Je nach Umsetzung kann das aber, wie 2021, auch torreiche Spiele fördern. Nämlich dann, wenn der Aussenseiter in Führung geht, die individuell besser besetzte Mannschaft aus dieser Ausgangslage heraus mehr riskiert und mehr für die eigene Offensive tut.
Und dann wäre da ja auch noch die individuelle Klasse. Spieler wie Kylian Mbappé, Cristiano Ronaldo, Harry Kane oder Romelu Lukaku brauchen nicht viel Raum, um Tore zu erzielen. Ausserdem wurden Standardsituationen in den letzten Jahren immer wichtiger, Teams haben Trainer nur für diese Situationen eingestellt und feilen an neuen Varianten.
Es ist also wahrscheinlich, dass die Fans bei der EM 2024 vor allem in der Gruppenphase einige Spiele sehen werden, in denen Zurückhaltung das oberste Gebot ist. Das heisst aber nicht automatisch, dass es eine Europameisterschaft der Remis wird oder dass es nur wenige unterhaltsame Spiele gibt. Dafür ist dieser Sport zu sehr abhängig von ständig wechselnden Konstellationen. Und spätestens in der K.-o.-Runde fällt auch noch die Rechnerei weg.
Über die Gesprächspartner
- Clemens Zulehner (32), geboren in Ried, ist bereits seit vielen Jahren als Trainer aktiv. Als Jugendtrainer arbeitete er unter anderem beim Vienna City FC und beim SV Ried in Österreich, wurde später Co-Trainer der AKA Admira U16, ehe er als Co-Trainer zurück zum SV Ried wechselte. Mittlerweile ist er beim LASK in Linz als Co-Trainer des Bundesligateams tätig.
- Benny Grund ist ein bekannter Analyst und Taktikblogger aus Deutschland und viel in den sozialen Medien aktiv. Unter anderem ist er als Teil von RondoTV auf Twitch aktiv, auch bei X (vormals Twitter) sind seine Einschätzungen zu lesen.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.