Das 5:1 gegen Schottland versetzt Deutschland in Partylaune. Doch ausgerechnet Thomas Müller erinnert an ähnliche Kantersiege mit fatalen Folgen. Das ist ganz im Sinne des Bundestrainers.

Pit Gottschalk
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Pit Gottschalk dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Das 5:1 zum EM-Auftakt gegen Schottland begeistert das ganze Land. Niemals ist Deutschland besser in eine Europameisterschaft gestartet. Nicht mal 1972, 1980 und 1996, als man am Ende die Trophäe gewann. Das ganze Land ist in Partylaune. Doch die Frage bleibt bestehen: War die deutsche Nationalmannschaft so gut - oder Schottland so schlecht?

Mehr News zur Fussball-EM

Die Fakten sind eindeutig. Die Deutschen schossen zehnmal aufs Tor, die Schotten kein einziges Mal. Ballbesitz für die deutsche Nationalmannschaft: 72,8 Prozent. 14 herausgespielte Torchancen zählten die Statistiker beim DFB, nicht eine bei den Briten. Fünf Eckstösse hatte Deutschland; Schottland keinen. Überlegener kann man ein Länderspiel kaum bestreiten.

Müller: "Noch ist nichts gewonnen"

Darum kann man Bundestrainer Julian Nagelsmann nur gratulieren: Alles richtig gemacht! Sein ausgesuchter Mittelstürmer Kai Havertz: Torschütze. Seine Entscheidung pro Ilkay Gündogan: Vorlagengeber. Der eingewechselte Niclas Füllkrug: Torschütze. Der nachnominierte Emre Can: eingewechselt und Torschütze. Sowas nennt man wohl: glückliches Händchen.

Trotzdem ist Vorsicht geboten. Ausgerechnet Thomas Müller, der vor Freude am liebsten die ganze Welt umarmt hätte, mahnte in der anschliessenden Presserunde zur Realitätsnähe: Noch sei nichts gewonnen. "Dieses Emotionsgedusel liest sich zwar immer ganz nett, aber es trägt dich nicht durch ein Turnier. Es wird Rückschläge geben", gab er lächelnd zu Protokoll.

Er ist jetzt 34 Jahre alt und hat zweimal erlebt, wie ein hoher und ungefährdeter Turnier-Auftakt wahlweise zu Fahrlässigkeit oder Überheblichkeit verleitete. Er nennt die WM 2010 in Südafrika: Deutschland besiegte Australien locker 4:0 und kassierte im zweiten Spiel den Dämpfer: 0:1 gegen Serbien. Und die WM 2014 in Brasilien: zuerst 4:0 gegen Portugal, dann 2:2 gegen Ghana.

Schottland nicht der Massstab

Die Warnung ist berechtigt. Denn Schottland war nicht der Supergegner, den man tagelang im deutschen EM-Quartier beschrieben hat. Nach den zwei frühen Toren durch Florian Wirtz und Jamal Musiala kassierte Ryan Porteous Rot (nach Foul an Gündogan) und leitete das Debakel endgültig ein. Man muss es so sagen: In dieser Form ist Schottland nicht EM-tauglich.

Ungarn, zweiter Vorrundengegner am Mittwoch, ist ein ganz anderes Kaliber. "Wir machen unser Ding, wir feiern uns auch", versichert Thomas Müller. "Trotzdem wissen die, die schon länger dabei sind, dass es egal ist, wie du das erste Spiel gemacht hast. Im zweiten kommt wieder ein Gegner, der dir das Leben schwer machen will. Haben wir alles erlebt."

Müllers Erfahrung hilft dem Team

Schon in der Halbzeitpause, als seine Mannschaft 3:0 führte und die Gefahr eines Schlendrians naturgemäss wächst, steuerte Julian Nagelsmann dagegen. Er forderte sogar bei komfortabler Führung "Gier" ein: Gier auf Tore, Gier auf Zweikampf, Gier auf Erfolg. Der Gegentreffer durch Antonio Rüdigers Eigentor war unglücklich. Entscheidend war, dass sein Team zweimal nachlegte.

Thomas Müllers Verweis auf die Turnier-Historie wird ihm beim Hochhalten der Konzentration helfen. Ein zweiter Sieg in Folge würde höchstwahrscheinlich die Qualifikation fürs Achtelfinale bedeuten und den Druck aus dem Schweiz-Spiel am 23. Juni in Frankfurt nehmen, um Luft zu holen. Der Bundestrainer weiss nur zu gut: Es werden härtere Brocken als Schottland kommen.

Über den Autor

  • Pit Gottschalk ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chefredakteur von SPORT1. Seinen kostenlosen Fussball-Newsletter Fever Pit'ch erhalten Sie hier.
  • Fever Pit'ch ist der tägliche Fussball-Newsletter von Pit Gottschalk. Jeden Morgen um 6:10 Uhr bekommen Abonnenten den Kommentar zum Fussballthema des Tages und die Links zu den besten Fussballstorys in den deutschen Medien.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.