England ist nach einem 0:0 gegen Slowenien Gruppensieger, doch Fans, Experten und Medien sind unzufrieden mit den Auftritten der "Three Lions". Im Achtelfinale droht nun ein Krachergegner und das frühe EM-Aus.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Bierbecher, die in seine Richtung flogen, hatte Gareth Southgate gesehen. Und die lauten Pfiffe, die Unmutsbekundungen im Stadion in Köln, die hatte er natürlich gehört. Der Nationaltrainer Englands weiss nicht erst seit dem schwachen 0:0 gegen Slowenien zum Abschluss der EM-Gruppenphase, dass er im Kreuzfeuer der Kritik steht. Sowohl in der Presse als auch bei den Fans. Dass seine "Three Lions" mit Ach und Krach Platz eins geholt haben, trug nicht dazu bei, die Gemüter zu beruhigen. Denn England bleibt bei dieser EM ein Rätsel.

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Doch Southgate macht das, was ein guter Coach macht: Er stellt sich vor seine Mannschaft. "Besser, es trifft mich als die Spieler", sagte er der Presse. "Wir kommen nur weiter, wenn wir alle zusammenhalten. Diese Energie der Fans ist für uns von entscheidender Bedeutung." Die Anhänger hatten das Team in der zweiten Halbzeit immer wieder angefeuert, minutenlang gesungen, laut und leidenschaftlich.

Eine Reaktion bleibt gegen Slowenien aus

Eine nachhaltige Reaktion der Mannschaft blieb jedoch aus. Dabei wollte man gegen Slowenien zum Abschluss der Vorrunde ein sportliches Statement setzen. Der Konkurrenz zeigen, was die Mannschaft nach mageren Darbietungen gegen Serbien (1:0) und Dänemark (1:1) zu leisten imstande ist. Man wollte die Muskeln ein wenig spielen lassen, für den Start der K.-o.-Runde Selbstvertrauen tanken. Das ist allerdings nicht gelungen, stattdessen war es bei der Nullnummer mal wieder blutleer, planlos, ideenlos, mutlos. Rätselhaft eben.

Denn der Kader ist vom Marktwert her der teuerste bei dieser EM, er ist gespickt mit Topstars und Megatalenten, mit jeder Menge Potenzial. Doch im Vergleich dazu ruft das Team nur einen Bruchteil davon ab. Und das zieht sich als Konstante durch die Auftritte der englischen Nationalmannschaft.

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Spieler sind nicht wiederzuerkennen

Strippenzieher Jude Bellingham spielt so, als hätte es die brillante Saison mit Real Madrid nicht gegeben. Die Bayernfans erkennen Torjäger Harry Kane, immerhin Bundesliga-Torschützenkönig, nicht wieder. Und Phil Foden, laut Pep Guardiola der "Spieler des Jahres" in England, ist alles, nur nicht "on fire", wie ihn die Fans besingen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen, denn im Grunde agiert der komplette Kader unter seinen Möglichkeiten. Angst und Schrecken verbreiten die Engländer, die vor dem Turnier als einer der heissesten Favoriten gehandelt wurden, so nicht.

Dass Southgate mit dem Spiel seiner Mannschaft dann "sehr zufrieden" war, "mehr Qualität am Ball" sah, "einige Verbesserungen" und "gute Aktionen vorne", werden sehr viele Fans, Medien und Experten in der Heimat wieder anders sehen. Weil sich die Mannschaft in der Realität nur darin treu bleibt, hinter den Erwartungen zurückzubleiben.

"Die öffentlichen Erwartungen" seien grösser als zuletzt, sagte Southgate. Das liege aber auch an den guten Leistungen bei den vergangenen Turnieren. "Wir haben dafür gesorgt, dass England wieder Spass macht. Mein Job ist es, sicherzugehen, dass das Team bestmöglich spielt." Was seine Mannschaft allerdings nicht macht. Die Boulevardzeitung Sun schrieb, Southgate sei ein "Umkehralchemist, der Gold in unedle Metalle" verwandle. Die Spieler also schlechter mache. Tatsächlich ist eine Entwicklung der Mannschaft kaum zu erkennen, wenn es Verbesserungen gibt, dann höchstens in Nuancen.

Harsche Kritik der deutschen Experten

Auch ZDF-Experte Christoph Kramer sparte nicht mit Kritik. "Ich habe das Gefühl, er hat keinen Plan im Kopf. Er lässt das Spiel spielen, wie es passiert, und setzt sich einfach da hin", sagte der Weltmeister von 2014. "Ich finde es komisch, dass er diese Weltklasse-Mannschaft so spielen lässt." Ihm täten die Spieler teilweise ein bisschen leid, sagte Kramer: "Da kannst du ein Spielermaterial haben, so wie du möchtest. Wenn du so in ein Spiel geschickt wirst, hast du keine Chance."

Kramers Expertenkollege Per Mertesacker wiederum sah "Tristesse pur" und Michael Ballack fällte bei MagentaTV ein ebenso hartes Urteil, sah die Engländer "relativ pragmatisch, harmlos, nicht kreativ" und mit "null Inspiration. Die individuelle Klasse nutzt ihnen nämlich auch nichts und das haben sie heute wieder leidvoll feststellen müssen."

Southgates Hoffnung: "Die Tore werden kommen"

Southgate räumte ein, dass das richtige Momentum fehlte, der richtige Laufweg, die finale Aktion, doch er ist sich sicher, "dass die Tore kommen werden". Und Aussenverteidiger Kieran Trippier betonte einfach immer wieder, dass man es als Gruppensieger in das Achtelfinale geschafft habe. "Ich kann die Frustration der Fans angesichts unseres Kaders gut verstehen", sagte er. "Die Leistungen waren nicht so gut. Aber als Spieler wissen wir, dass wir es besser machen können, und deshalb ist jetzt der perfekte Zeitpunkt, um zu analysieren, wo wir uns verbessern können." Der Zeitpunkt mag vor dem Achtelfinale kein schlechter sein, allerdings stellt sich die Frage, ob und wie schnell eine solche Analyse umgesetzt wird.

Was muss besser werden? "Natürlich wissen wir, dass wir mehr Chancen kreieren können, dass wir geduldiger sein können, und wir können viel besser spielen. Wir haben viel Ballbesitz und dominieren das Spiel, aber das Wichtigste sind Tore", sagte Trippier. Mittelfeldmann Anthony Gordon monierte zu Recht, dass Kreativität fehle. Er sah in der Kabine unmittelbar nach dem Spiel aber "Fokus. Wir wissen, wo wir stehen und was fehlt."

Southgate appellierte an die Nation, zusammenzuhalten. "Das Wichtigste ist, dass die Fans hinter der Mannschaft stehen. Ich verstehe das Narrativ, das über mich in den Medien präsent ist. Es ist besser, wenn es um mich geht, als um das Team. Aber es ist einfach eine ungewöhnliche Atmosphäre", sagte Southgate, und stichelte zurück in Richtung Medien und Experten: "Ich habe keine andere Mannschaft gesehen, die sich qualifiziert hat und ähnlich viel Kritik bekommen hat."

Nun droht ein Knallerduell

Doch die Kritik ist zu einem nicht unbedeutenden Teil berechtigt, die von Southgate selbst angekündigte Leistungssteigerung gab es gegen Slowenien nicht. Am Ende ist er derjenige, der gefordert ist, der seine Mannschaft mit einem Plan ausstatten muss, den sie aber nicht zu haben scheint.

Und wenn, wie gegen Slowenien, der Gegner mit seinem Pressing England vor scheinbar unlösbare Aufgaben stellt, braucht die Mannschaft eigentlich auch einen Plan B oder C. Denn jetzt beginnt die Phase des Turniers, in der es keine Ausreden mehr gibt, in der keine Fehler mehr verziehen werden.

Im Achtelfinale wartet ein Gruppendritter, aktuell droht ein Duell mit den Niederlanden. Und das frühe EM-Aus. Ein kleiner Trost, wenn auch unbedeutender: Southgate weiss immerhin, was ihn dann von Experten, Medien und Fans erwartet.

Verwendete Quellen

  • TV-Übertragung ZDF, MagentaTV
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