• Deutschland verliert auch deshalb das Finale gegen England, weil das Team vom Glück verlassen wurde.
  • Trotzdem zeigt das DFB-Team Moral und kommt angeführt von Lina Magull zurück.
  • Am Ende krönt sich England verdient zu Europameisterinnen – und Deutschland kann dennoch mit viel Mut für die Zukunft nach Hause fahren.
Eine Analyse

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Deutschland war der Titel bei der Europameisterschaft nicht vergönnt. Mit 1:2 verliert die DFB-Auswahl nach Verlängerung gegen England – und fährt trotzdem als Gewinnerin nach Hause. Fünf Erkenntnisse zur Finalniederlage.

1. Deutschland fehlt das Quäntchen Glück

Um so ein Finale zu gewinnen, brauche es immer "das Quäntchen Glück", analysierte Lena Oberdorf nach den hart umkämpften 120 Minuten gegen England. Und genau das hatte Deutschland an diesem Abend nicht – oder nicht ausreichend. In der ersten Halbzeit gab es eine elfmeterwürdige Szene im englischen Strafraum, als der Ball der Kapitänin Leah Williamson an die Hand sprang. Der VAR überprüfte die Situation – und griff nicht ein.

In der zweiten Halbzeit traf Lina Magull die Latte, der 1:2-Gegentreffer durch Chloe Kelly in der 110. Minute fiel maximal unglücklich. Hinzu kamen viele kleine Entscheidungen des Schiedsrichterinnenteams, die zumindest diskutabel waren.

Schon vor dem Spiel musste Deutschland den ersten Rückschlag hinnehmen. Alexandra Popp konnte wegen muskulärer Probleme nicht spielen. Das Team trotzte all diesen Umständen und kam nach einer schwächeren ersten Halbzeit richtig gut in die Partie. Dass England genau in der Phase das 1:0 erzielte, in der die DFB-Auswahl erstmals die Kontrolle über das Spiel zu gewinnen schien, passte ins Bild.

Deutschland aber kam zurück, erzielte den Ausgleich und musste sich dann in der Verlängerung doch geschlagen geben. Es sollte einfach nicht sein – und genau das macht die Niederlage nochmal bitterer.

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2. Lina Magull ist die unbesungene deutsche Heldin

Ein grosses Fussballturnier ohne Heroisierung? Unmöglich. Bei dieser Europameisterschaft hat Lina Magull einen unglaublichen Weg hinter sich gebracht. Immer wieder wurde sie durch Oberschenkelprobleme zurückgeworfen – und doch war sie an den vielleicht wichtigsten deutschen Momenten direkt beteiligt.

Das erste Tor im Auftaktspiel gegen Dänemark erzielte sie ebenso wie die Führungstreffer gegen Österreich und den Ausgleich im Finale gegen England. Dabei schien die erste Halbzeit ein für sie fast schon typischer Auftritt zu werden. Magull war bemüht darum, dem Spiel ihren Stempel aufzudrücken. Doch gelingen wollte ihr fast nichts.

In der ersten Halbzeit tauchte sie deshalb zunehmend ab. Kritik, dass sie in solchen Momenten nicht mehr in der Lage sei, sich in die Partie reinzuarbeiten, begleitet sie schon länger. Doch die Magull bei dieser EM war eine andere. Eine, die aus ihrer Zeit als Kapitänin beim FC Bayern München viel Erfahrung mit in dieses Turnier gebracht hat.

In der zweiten Halbzeit gegen England ging sie voran. Die 27-Jährige gewann Zweikämpfe, verteilte die Bälle viel aktiver und fand plötzlich die Räume, in denen sie Zugriff auf das Spiel bekam. Dass Deutschland im zweiten Durchgang plötzlich das bessere Team war, hat ganz viel mit ihr zu tun gehabt. Mit dem EM-Titel fährt Magull nicht zurück nach München – aber mit einer ganz persönlichen Entwicklung, die sie für die Zukunft noch stärker machen wird.

3. Deutschland zu unerfahren in der Verlängerung

Alexandra Popp, Sara Däbritz, Lina Magull, Marina Hegering – sie alle standen in der Verlängerung ganz oder teilweise nicht (mehr) zur Verfügung. Es war eine komplette Achse, die insbesondere nach dem zweiten Gegentor geholfen hätte, das Spiel vielleicht noch ein zweites Mal umzudrehen.

Da steckt viel Konjunktiv drin. Aber spätestens nach der Hegering-Auswechslung in der 103. Minute verlor das deutsche Team den Flow. England hatte dann wieder deutlich mehr vom Spiel. Einen Vorwurf machen kann man der Bundestrainerin hier aber nicht.

Däbritz erwischte keinen guten Tag, Magull war nach 90 Minuten und den Fitnessproblemen der vergangenen Tage wohl zu platt und auch Hegering musste mehrfach hart einstecken. Trotz guter Spielerinnen auf der Bank schaffte es Deutschland nicht mehr, das Wegbrechen dieser so wichtigen Achse zu kompensieren.

4. Deutschlands Defensive verdient ein Sonderlob

Nur drei Gegentore kassierte das DFB-Team bei diesem Turnier. Eins gegen Frankreich und jetzt zwei im Finale – eins davon in der Verlängerung. Die Defensive war vor der Europameisterschaft ein grosses Thema. Marina Hegering kam aus einer langwierigen gesundheitsbedingten Pause, der Platz neben ihr in der Innenverteidigung war hart umkämpft – auch deshalb, weil sich niemand so richtig hervortun konnte.

Auf der linken Abwehrseite bekam Felicitas Rauch erst spät den Zuspruch der Bundestrainerin, rechts gab es Sorgen, dass Giulia Gwinn mit ihrer offensiven Spielweise Lücken für Gegenstösse aufreissen könnte.

Die lange Geschichte in kurz: Das waren offenbar unbegründete Sorgen. Die Viererkette spielte ein sehr starkes Turnier und zeigte auch gegen die stärksten Teams Europas, welch grosse Qualität sie hat. Vor allem Kathrin Hendrich hat sich im Turnierverlauf steigern können. Im Finale zeigte sie ihre bisher beste Leistung.

Defensiv räumte sie mit ihrer mutigen Art nach vorn zu verteidigen viel ab, mit dem Ball wusste sie mit Dribblings zu begeistern. Den 1:1-Ausgleich hatte sie mit einem solchen eingeleitet. Beim 1:2 kam sie wiederum einen Schritt zu spät. Ihre starken Leistungen trübt das aber nicht – und auch nicht die engagierte und beeindruckende Defensivleistung des gesamten Teams. Das war ein grosser Schlüssel zum Erfolg.

Nach Popp-Schock: EM-Traum von DFB-Damen nach 120 Minuten geplatzt

Kein Happy End für die deutschen Fussballerinnen in Wembley. Das Team von Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg hat das Finale der Europameisterschaft nach einem grossen Kampf mit 2:1 verloren. © 1&1 Mail & Media/ C3 Creative Code and Content GmbH

5. Der Fussball ist zu Recht nach Hause gekommen

Dass sich Deutschland im Finale gegen England geschlagen geben musste, ist alles andere als eine Enttäuschung. Das DFB-Team wusste zu begeistern und hat in Deutschland viele Menschen aus dem Sommerloch gerissen. Im Finale unterlagen die Deutschen einem Team, dem dasselbe auf der Insel gelang.

Wer in die vielen Gesichter im Wembley-Stadion geblickt hat, konnte immer noch nur erahnen, was dieser Titel für diese Nation bedeutet. "It's coming home", sangen die Fans nach dem Führungstreffer in der Verlängerung. In den letzten Jahrzehnten sangen sie dieses Lied häufig. Eingetroffen ist es nie. Diesmal aber sollten sie richtig liegen.

Es ist eine der vielen Geschichten, die diese grossartige Europameisterschaft geschrieben hat: Das Nationalteam der Frauen erlöst England nach 56 Jahren ohne grossen Titel – ausgerechnet gegen Deutschland. Die Engländerinnen haben es sich genauso verdient, wie es sich das Team von Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg verdient hätte.

"Es muss ja einen Sieger geben", analysierte diese anschliessend nüchtern. England hat sich diesen Erfolg in den vergangenen Jahren erarbeitet. Mit Sarina Wiegman haben sie zudem eine der besten Trainerinnen der Welt engagiert. Strukturen, Talent der Spielerinnen und ein sehr starkes Trainerinnen- und Trainerteam mündeten in dieser besonderen Nacht von London. Eine historische für den englischen Fussball.

Der Fussball ist an diesem Abend zu Recht nach Hause gekommen – und auch Deutschland wird schon bald realisieren, dass diese Erkenntnis den eigenen Erfolg kein bisschen schmälert. Im Gegenteil: Dieses junge Team macht nur noch mehr Lust auf die kommenden Jahre. Und deshalb sind die Deutschen trotz der Niederlage im Finale ebenfalls Gewinnerinnen.

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