Das deutsche Ausscheiden gegen Spanien wird Spuren hinterlassen und personelle Konsequenzen haben. Aber: Die Mannschaft hat in nur wenigen Wochen das geschafft, was seit Jahren schmerzlich vermisst wurde. Und sie steht in ihrem Kern erst am Start einer neuen Reise.

Eine Analyse
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Auf alles war die deutsche Mannschaft vorbereitet: Auf den Spielstil der Spanier, auf deren Strukturen im Ballbesitz, die Dribblings ihrer Flügelspieler, ihre Problemzonen in der Defensive und einen Plan B und einen Plan C, sollte all das nicht so richtig greifen.

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Julian Nagelsmann hatte dafür eine solide, eher handwerkliche Idee vorgegeben, mehr auf Manndeckung gegen den Ball gesetzt und dann auf schnelle Umschaltsituationen gehofft – ohne dabei aber den eigenen Ballbesitz zu vergessen. Denn nur damit lässt sich einer Mannschaft wie Spanien am Ende auch beikommen: Man muss ihnen so lange wie möglich den Ball wegnehmen.

Deutschland schaffte das nach einer schwierigen Anfangsphase immer besser und lag am Ende in jedem messbaren Bereich des Spiels zum Teil deutlich vorne. Nur nicht bei den Toren. In den Teildisziplinen, die nicht immer selbst zu kontrollieren sind, waren die Spanier an diesem Abend von Stuttgart einfach nicht zu übertreffen: Sie hatten die deutlich grössere Effizienz, zeigten sich widerstandsfähiger in einem sehr körperbetonten Spiel und konnten sich auch auf das nötige Spielglück verlassen, ohne das eine Partie auf Augenhöhe schlicht nicht zu gewinnen ist.

Spanien trotzt dem körperlichen Spiel

Zur Ironie des Schicksals aus deutscher Sicht gehörte unter anderem, dass Matchwinner Dani Olmo nur deshalb so früh ins Spiel eingreifen konnte, weil Toni Kroos nach nur wenigen Minuten seinen direkten Gegenspieler Pedri aus der Partie foulte. Vielleicht war das schlechte Timing in den Zweikämpfen der deutschen Spieler zu Beginn Zufall oder einer gewissen Aufregung geschuldet. Die harte Gangart dürfte aber eher Mittel zum Zweck gewesen sein, um den Gegner zu beeindrucken.

Aber Spanien liess sich weder in der ersten Halbzeit davon einschüchtern noch im Laufe des Spiels in die Knie zwingen von der deutschen Körperlichkeit und den Fans im Stadion. Die Iberer wackelten bedenklich, aber sie hielten - einmal mehr in einem grossen Spiel, ob auf Verbands- oder Klubebene - stand. Und zeigten sich dann so gnadenlos, wie die Deutschen hätten sein müssen: Mit der einzigen nennenswerten Aktion innerhalb des Strafraums in der gesamten Verlängerung entschied Spanien das Spiel für sich.

Verjüngung der Mannschaft steht an

Spanien ist der deutschen Mannschaft in seiner Entwicklung ein paar Schritte voraus. Nagelsmann und sein Trainerteam schafften es aber, diesen Vorsprung für ein Spiel zu kaschieren. Das war die gute Nachricht an einem ansonsten bittersüssen Abend. Von den beiden aufstrebenden Fussballnationen, die in den Jahren zuvor ihre Schwierigkeiten hatten, hat sich nun Spanien durchgesetzt und weiter die Chance, früher als gedacht einen Titel zu erringen.

Für Deutschland beginnt vermutlich schon in wenigen Tagen die Zeit der Umstrukturierung. Die Mannschaft hat sich verlorenen gegangenen Kredit wieder erspielt, den Kontakt zu den Fans im Land wieder hergestellt. Auch das ist eine grosse Leistung nach den Verfehlungen der letzten Jahre. Aber sie war mit 28,5 Jahren auch die älteste Mannschaft des Turniers.

Auf Toni Kroos' Karriereende dürfte noch der eine oder andere weitere Rückzug aus dem Team folgen, wahrscheinlich von Thomas Müller (34), vielleicht auch von Kapitän Ilkay Gündogan (33) und Torhüter Manuel Neuer (38). Das Grundgerüst der Anführer also, auch wenn Müller bei dieser EM auf dem Platz eher eine Nebenrolle innehatte.

Nagelsmann bleibt der Schlüsselfaktor

Der deutsche Tross ist in den letzten sechs Wochen als Gruppe zusammengewachsen, es hatten sich neue Synergien ergeben. "Auch mit den Spielern, die hinten dran waren, gab es in den sechs Wochen nicht einmal eine problematische Situation", sagte Nagelsmann in der ARD und hatte dabei Tränen in den Augen. Auch Joshua Kimmich oder Niclas Füllkrug äusserten sich ähnlich positiv über den Teamgeist, der zu einem Markenkern der Mannschaft wurde.

Um die beiden und die nachrückende Generation der beiden jungen Wilden Florian Wirtz und Jamal Musiala herum darf der Bundestrainer nun eine neue Mannschaft aufbauen. Nagelsmann selbst hat bei diesem Turnier bewiesen, dass er mit den enormen Anforderungen und dem Druck umzugehen vermag, harte Entscheidungen nicht scheut und sich selbst auch in den Hintergrund rücken kann.

Auf dem Weg in eine erfolgreiche Zukunft bleibt der Bundestrainer der Schlüsselfaktor schlechthin. Nun geht es auch darum, die Enttäuschung über das verpasste Ziel zu kanalisieren und daraus neue Kraft und Motivation zu schöpfen. Wie viel die neu gewonnene Identifikation mit dieser Mannschaft wert ist, könnten schon die nächsten Spiele im Herbst in der Nations League zeigen.

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Das ist erst der Anfang

Dann wird der beschwingte EM-Sommer längst vergessen sein und der Alltag mit Spielen gegen die Niederlande, Ungarn und Bosnien-Herzegowina wieder Einzug halten. Für den Moment wurde Julian Nagelsmann deshalb fast schon pathetisch.

"Man hat der Nationalmannschaft berechtigterweise oft vorgeworfen, dass sie ihren Job nur abspulen will. Das war nicht so. Das sollen die Jungs mitnehmen: Dass sie es geschafft haben, das Land, das viel zu viel in Tristesse und Schwarzmalerei verfällt, aufzuwecken und ihm schöne Momente zu bescheren. Ich hoffe, dass diese Symbiose zwischen Fans und Mannschaft auch in der normalen Gesellschaft stattfindet und wir begreifen, dass wir als Gesellschaft gemeinsam mehr bewegen können und nicht, wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht."

In Stuttgart ist deshalb der Weg zu grossen Zielen nicht gestoppt. Stattdessen müssen die deutsche Nationalmannschaft und ihre Fans bei allem Frust verstehen, dass ab sofort etwas Neues entstehen kann. Dass dies erst der Anfang ist - und nicht das Ende.

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