​​​Die englische Nationalmannschaft verfügt über viele Topstars wie Harry Kane oder Jude Bellingham, hat den wahrscheinlich wertvollsten Kader des Turniers – und funktioniert bislang trotzdem nicht. Die Kritik ist gross.

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Fussball-Euphorie in England? Davon ist momentan nichts zu spüren. Medien, Experten und Fans sind mit Harry Kane und seinen Co-Stars unzufrieden. Die englische Nationalmannschaft führt zwar mit vier Punkten die Gruppe C an und ist bereits für das Achtelfinale qualifiziert. Aber: Sie geben fussballerisch eher ein schwaches Bild ab.

Zum Auftakt gewannen sie nur sehr glücklich mit 1:0 gegen Serbien, im zweiten Vorrundenspiel kamen sie gegen Dänemark nicht über ein 1:1 hinaus. "Wir spielen noch immer nicht auf dem Niveau, auf dem wir gerne spielen würden", gibt der englische Nationaltrainer Gareth Southgate auf einer Pressekonferenz zu und verspricht Besserung. Im letzten Vorrundenspiel gegen Slowenien (Dienstag, 21 Uhr) geht es um den Gruppensieg.

England könnte Deutschlands Achtelfinalgegner sein

Gewinnt England nicht, könnten sie auf Platz 2 abrutschten und damit der Achtelfinalgegner von Deutschland sein. Wie der Nationaltrainer seine Mannschaft im Vergleich zu den anderen Topnationen einschätzt?

"Wir haben immer gewusst, dass wir eine der Mannschaften sind, die das Turnier gewinnen können", stellte er der Presse gegenüber klar. "Aber wir wussten auch, dass Spanien, Frankreich, Deutschland und Portugal eine grosse Qualität haben. Das Niveau ist sehr hoch. Wir haben unsere Ziele nicht verändert. Wir wissen, was möglich ist, wir wissen aber auch, dass wir ein besseres Spielniveau erreichen müssen."

Zumindest Letzteres ist eine Meinung, die er mit vielen Experten teilt. Die Enttäuschung darüber, dass die englische Nationalmannschaft trotz der vielen Superstars wie Harry Kane, Jude Bellingham, Phil Foden oder Declan Rice fussballerisch nicht harmoniert, ist gross.

Deutsche TV-Experten sind von England enttäuscht

"Der Kader ist anderthalb Milliarden Euro wert. Dass sie so spielen, finde ich immer ein bisschen enttäuschend", sagte ZDF-Experte Christoph Kramer bereits. "Ich gucke mir jedes Mal England an, und weiss nicht, was sie machen wollen. Mit dem Kader erwarte ich mir, dass man drüberfährt."

Auch das Zwischenfazit des früheren deutschen Nationalspielers Stefan Effenberg fällt negativ aus. "Die Engländer haben überhaupt noch nichts gezeigt, im zweiten Spiel war ich tief enttäuscht von den Engländern – ohne Plan, kein Pressing, kein Anlaufen, das war gar nichts", sagte er im "Sport 1 Doppelpass".

Aus deutscher Perspektive sagte Effenberg im Hinblick auf den Achtelfinalgegner: "Ich glaube, die Dänen sind schwerer zu bespielen als die Engländer. Ich würde lieber die Engländer nehmen als die Dänen."

Es hatte sich bereits angedeutet, dass die englische Nationalmannschaft fussballerisch nicht harmoniert. Vor der Europameisterschaft wurde nur eines der letzten fünf Spiele gewonnen – und zwar gegen die nicht konkurrenzfähige Mannschaft von Bosnien-Herzegowina. Das letzte Testspiel vor der Europameisterschaft ging sogar mit 0:1 gegen Island verloren.

Ex-Nationalspieler Hargreaves übt scharfe Kritik

Der frühere englische Nationalspieler Owen Hargreaves, der in seiner aktiven Zeit unter anderem beim FC Bayern München spielte, kritisierte im "Kicker" die aktuelle Mannschaft: "In Ballbesitz wirkt das Team total nervös, vorne findet gar nichts statt. Da frage ich mich, wie das sein kann. Die spielen entweder in der Premier League, bei Real oder Bayern. Und agieren dort alle ganz anders."

Die Schwachstellen würden sich durch die ganze Mannschaft ziehen. "Sie spielen mit Ball zu langsam, es findet kein Pressing statt, im Mittelfeld fehlt die Balance", sagte Hargreaves und fordert: "Sie müssen den Schalter umlegen, höher pressen, mehr Energie auf den Platz bringen, das Feld enger machen."

Speziell Trainer Gareth Southgate steht in der Kritik, weil er vielfach zu passiv spielen lässt und die Stärken seiner Spieler nicht richtig einsetzt. In Bezug auf Trent Alexander-Arnold (FC Liverpool), Kieran Trippier (Newcastle United) und Phil Foden (Manchester City) erklärte Hargreaves: "Wir haben drei Spieler, die auf anderen Positionen spielen als in ihren Klubs."

Auch der Mittelstürmer werde nicht optimal eingesetzt. "Im ersten Spiel sagt er zu Harry Kane auch, er soll nur vorn bleiben. Dann hatte er einen Ballkontakt vor der Pause. Das geht nicht", sagte Hargreaves. Im zweiten Spiel gegen Dänemark gelang Kane immerhin das einzige Tor der Engländer.

Hargreaves ist pessimistisch: "Vor dem Turnier habe ich gedacht, wir haben gute Chancen auf den Titel. Wenn ich die EM sehe, sind wir aber klar hinter Deutschland, Portugal oder Spanien. Wenn man die ersten Spiele anschaut, kriegt man ja schon Angst, falls wir dann bald auf einen Top-Gegner treffen werden." Hoffnung macht ihm lediglich, dass die Mannschaft sich steigern kann.

Auch der frühere deutsche Nationalspieler Thomas Helmer schreibt in seiner Kicker-Kolumne: "Klar, die Engländer werden nicht weit kommen, wenn sie so weiterspielen, sie haben aber am meisten Luft nach oben."

Nationaltrainer Southgate blendet Kritik aus

Was Nationaltrainer Southgate zu all der Kritik sagt? "In der Welt, in der wir leben, gibt es immer Lärm von aussen. Aber das sollte uns nicht beeinflussen", stellte er klar. "Ich bin mein eigener grösster Kritiker und muss mir nicht die Kritik von anderen anhören. Und die Spieler sind auch sehr kritisch mit sich selber."

Ob die Stars eine Reaktion auf dem Platz zeigen werden? Eines ist klar: Sollten Kane, Bellingham und Kollegen ihr Potenzial entfalten, gehören sie automatisch zu den Titelkandidaten. Allerdings wirklich nur dann.

Verwendete Quellen

  • "kicker" (52/2024): "Da kriegt man ja Angst"
  • "kicker" (52/2024): “England hat die meiste Luft nach oben”
  • Sport1-"Doppelpass" vom 23. Juni 2024
  • Pressekonferenz der englischen Nationalmannschaft vom 24. Juni 2024
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