Die EM in Deutschland ist nicht nur ein sportliches Kräftemessen, sondern auch ein kulturelles Zusammentreffen der Fans verschiedener Nationen. Die Schotten feiern gern, das ist inzwischen bekannt. Ukrainer, Ungarn, Serben – viele Fans setzen aber auch politische Statements ab. Wie sich Fan-Gruppen unterscheiden.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Victoria Kunzmann. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Kaum war das Spiel zu Ende, kaum waren die ersten Tränen vergossen, lagen sich die schottischen Fans mit den ungarischen Fans schon wieder in den Armen. "Now we support you", versprach etwa der grosse, schlaksige Schotte Callum seinem neuen ungarischen Freund Tomas in der U-Bahn, die ihn zum Neckarpack nach dem Spiel in seine Stuttgarter Unterkunft bringen sollte. Dass die Ungarn selbst nicht weiterkommen würden, war zu diesem Zeitpunkt nicht relevant.

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Tomas erklärte seinem neuen Freund daraufhin, dass er selbst gar nicht so sehr für sein Heimatland sei. Viele seiner Landsleute würden hinter der Politik des Präsidenten Viktor Orbán stehen. "That’s not very cool", sagt er. Besonders cool sei das nicht. Dann machten beide aus, einander besuchen zu kommen, sollten sie mal in der Heimat des jeweils anderen sein.

Für beide Fan-Gruppen war das EM-Märchen nach drei Gruppenspielen wieder vorbei. Elf Tage Ekstase, elf Tage feiern – im Gedächtnis bleiben sie den deutschen Fans wohl noch viel länger. Vor allem die schottischen Fans haben für gute Laune gesorgt und den deutschen Fans gezeigt, wie Unterstützung für das eigene Team auch aussehen kann.

Dass die Unterstützung unterschiedlicher Fanlager unterschiedlich aussieht, beobachtet Fan-Forscher Harald Lange von der Uni Würzburg: "Weshalb schaffen es Schotten, ihr Auswärtsspiel zu einem Heimspiel zu machen, während sie 1:4 hinten liegen?", fragt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

So geschehen in München, Köln und Stuttgart, den drei Gruppenspielorten der schottischen Mannschaft. Die deutschen Fans seien anders. "Wenn die Mannschaft aus dem Turnier fliegt, ist die Bindung der Fans weg", sagt Lange. "Dann wäre man froh, man hätte Fans wie die Schotten, die ihr Team auch dann feiern, wenn es verliert." Davon sei man hier "meilenweit entfernt".

Politische Botschaft der ukrainischen Fans

Drei Tage nach dem Aus der schottischen Mannschaft bei der EM sind dafür die ukrainischen Fans mit einer Botschaft in Stuttgart unterwegs. Vor ihrem Spiel gegen Belgien in Gruppe E organisierten sie einen Fan-Marsch, der am Bahnhof Bad Canstatt startete und etwa anderthalb Kilometer zum Stadion führte.

Auch Dimitri läuft mit seiner Familie mit, seine Frau trägt einen langen Rock, einen Blumenkranz und hat sich in die ukrainische Flagge gehüllt. Die Stimmung ist festlich und ernst zugleich. "Sowohl sportlich als auch politisch hat das eine sehr grosse Bedeutung für uns alle", sagt Dimitri. Es sei wichtig, dass "die Ukraine medial in Erinnerung bleibt", sagt er und meint damit das Leid, das im Land herrscht, seit es von Russland angegriffen wurde. Das Leid solle nicht in Vergessenheit geraten.

Die ukrainischen Fans, die bei der EM dabei sein können, sehen es auch in ihrer Verantwortung, an den Krieg zu erinnern. "Ich spiele Fussball von klein auf", erklärt Dimitri, für den es ein Heimspiel ist. Er wohnt seit vielen Jahren in Stuttgart. "In der jetzigen Zeit für eine ukrainische Mannschaft zu sein, das ist besonders, das ist sehr wichtig."

Wenig Resonanz auf politische Reaktionen

Obwohl Banner im Stadion verboten sind, haben es ukrainische Fans geschafft, eins in den Fanblock zu schmuggeln und in der fünften Minute des Spiels auszurollen: Es zeigt den Soldaten Nazariy Hryntsevich, der im Mai mit gerade einmal 21 Jahren gestorben ist. Sein Porträt besteht aus den Bildern von 182 gefallenen Soldaten der Ukraine.

Das Ziel der Kampagne sei es, schreibt die ukrainische Fan-Gruppe in einer Pressemitteilung, "die Welt daran zu erinnern, dass tausende Fussballfans die Ukraine an der Front verteidigen. Sie könnten für das Team jubeln, aber stattdessen verteidigen sie das Land und opfern ihre Leben für den Frieden in Europa."

Für Fan-Forscher Lange habe die Ukraine ihre Bühne genutzt, "um die Welt aufmerksam zu machen." Für ihn sei es aber umso erstaunlicher, "wie wenig Resonanz das gefunden hat". Damit meint er vor allem die Berichterstattung über die ukrainischen Fans.

Fan-Forscher: Politisch motivierte Fans sind Randgruppen

Auch andere Fan-Gruppen wollten ihre Bühne nutzen bei der EM in Deutschland, nicht immer nur im positiven Sinne. So sangen etwa serbische Fans Anti-Kosovo-Gesänge. Kroatische und albanische Fans hingegen stimmten in Hamburg "Tötet die Serben"-Rufe an, wogegen der serbische Fussballverband protestierte und Sanktionen von der Uefa forderte.

Vor dem Achtelfinalspiel gegen die Türkei sangen österreichische Fans "Ausländer raus"-Parolen, zu denen dann sogar Spieler Michael Gregoritsch Stellung bezogen hat. "Wir sollten uns ganz weit entfernen von rechtem Gedankengut und wissen, wie wichtig es ist, dass wir alle gleich sind, dass wir alle für unser Land da sind und für eine Sache so brennen können", sagte er.

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Für Harald Lange sind die politisch motivierten Fans dennoch eine Randerscheinung bei der EM. "Es geht unter, weil es wenige sind", sagt er. Zudem würden es viele Journalisten meiden, über politische Konflikte während der EM zu berichten. Insbesondere für den Deutschen Fussball-Bund (DFB) sei es wichtig, die Politik aus dem Turnier herauszuhalten. Dieser Wunsch sei "wesentlich grösser als der Wunsch, solch eine Debatte zu führen. Der Sportjournalismus hat es praktisch nicht mehr aufgegriffen", sagt Lange.

Nicht nur die Fans, auch Spieler und Trainer äusserten sich bei dieser EM bereits politisch, wie Gregoritsch zeigte. Kylian Mbappé hatte vor den Rechtsextremen bei den französischen Parlamentswahlen gewarnt und Ralf Rangnick zeigte sich besorgt über den Rechtsruck in Deutschland. Die jüngsten Vorfälle zeigen, dass sich die Politik schwer aus dem Fussball heraushalten lässt. Wie lange sich das noch am Rand der Berichterstattung abspielt, bleibt abzuwarten.

Verwendete Quellen

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