Zwar hat England das Viertelfinale der EM erreicht, die Stimmung unter den Fans ist aber zwiegespalten. Nationaltrainer Gareth Southgate muss sich mit jeder Menge Kritik auseinandersetzen.
Gareth Southgate. Immer wieder
Der in der öffentlichen Wahrnehmung umstrittene 53-Jährige ist bei Teilen der Fans noch immer beliebt. Er habe England den Erfolg zurückgebracht, heisst es oft. Nicht wenige hatten sich zuvor abgewendet von der Mannschaft, viele haben sich durch Southgate aber wieder in das Team verliebt. Das betonen tatsächlich zahlreiche Anhänger: Southgate hat es geschafft, eine Nation wieder für die Nationalmannschaft zu begeistern, sie ein Stück weit hinter dem Team zu vereinen.
Southgate hatte Erfolg mit England – doch er muss wieder liefern
Das geht natürlich am einfachsten über den Erfolg, den Southgate zweifellos hatte seit seinem Amtsantritt 2016. Halbfinale bei der WM 2018, Viertelfinale in Katar 2022, dazu EM-Finalist 2021 – es hätte weitaus schlechter laufen können. Da muss man sich nur anschauen, was die deutsche Nationalmannschaft in der Zeit fabriziert hat. Southgate, bei seiner Verpflichtung umstritten, hat sich viel Kredit erarbeitet, diesen aber inzwischen bei vielen auch wieder aufgebraucht.
Was daran liegt, dass Fans schnell vergessen oder die Geduld verlieren, weil sie endlich diesen heiss ersehnten ersten Titel seit 1966 wollen. Diese erfolglose Jagd ist ein tief verwurzeltes Trauma im Mutterland des Fussballs, das auch Southgate nicht heilen konnte. Zudem erlebt er ein generelles Problem des immer schnelllebigeren Geschäfts: Nichts ist heutzutage so vergänglich wie der Erfolg von gestern.
Soll heissen: Wer wie Southgate 2021 bei der EM das Finale mit seinem Team erst im Elfmeterschiessen verliert und weiterhin einen überaus talentierten Kader zur Verfügung hat, steht unter dem Erwartungsdruck, den Titel zu holen. Kombiniert mit einem englischen Hang zu Negativität und Pessimismus ergibt das einen für Southgate gefährlichen Stimmungsmix. Den auf Southgate umgedichteten Song "Whole Again" mit der Zeile "Southgate you're the One" hört man kaum noch. Stattdessen immer mehr Unmutsbekundungen.
Der Vorwurf: Southgate macht zu wenig aus dem Kader
Denn was ihm durchweg alle vorwerfen: Dass er aus dem nach dem Marktwert wertvollsten Kader der 24 EM-Teilnehmer vor allem offensiv nicht annähernd das Machbare herausholt. Dass er zu ängstlich agiert, zu zurückhaltend, zu passiv, zu defensiv. Nach dem Motto "Safety first", dabei bietet der Kader offensiv alles, was ein Trainer-Herz begehrt. Dazu habe er kein System, keinen Plan B oder C. "Ein durchschnittlicher Trainer für einen hochklassigen Kader", bringt es ein Fan auf den Punkt. Er stelle vielleicht die besten Spieler auf, aber keine Mannschaft, so der Vorwurf. Dem Team fehle die Balance.
Doch ist es nun eine laute Minderheit, die Stimmung gegen ihn macht? Oder hat sich tatsächlich die Mehrheit gegen den früheren Nationaltrainer gestellt? Eher Ersteres, so wirkt es. Der Respekt ist immer noch da, doch der Frust unter den Anhängern wächst. Sie wollen den Titel und sie denken, dass der mit dem Kader fast schon Pflicht ist. Ja, die vergangenen Jahre waren erfolgreich, aber kaufen können sich die Anhänger davon letztendlich auch nichts. Es scheint, dass viele Fans am Ende nicht traurig sein werden, wenn die Ära Southgate nach der EM endet.
3:0? Nein, fast das EM-Aus!
Interessanterweise unterstreichen die Fans die Kluft zwischen Anspruch, Erwartung und Wirklichkeit aber auch selbst. Die zu 90 Prozent genannte Vorhersage für das Spiel gegen die Slowakei: 3:0. Siegessicher und optimistisch waren die Anhänger der "Three Lions", doch der schwache Auftritt beim 2:1 nach Verlängerung war einmal mehr ein Beweis für die Vorwürfe, mit denen sich Southgate auseinandersetzen muss.
Immerhin flogen diesmal keine Bierbecher. Denn Fussballfans können zwar unbarmherzig ehrlich sein. Sie verzeihen aber auch schnell, im Erfolgsfall vergessen sie gerne mal, was vorher war. Da ist der Fussball dann eben doch Ergebnissport. Deshalb füllten die englischen Anhänger ihre Becher nach dem überaus glücklichen Einzug in das Viertelfinale lieber weiter mit Bier, anstatt sie wie zuletzt geleert auf ihren Nationaltrainer zu werfen.
Immer wieder in der Kritik
Doch die 120 Minuten waren zäh, sie machten wenig Hoffnung auf Besserung. Es gab zwischendurch immer wieder lautstarke Pfiffe für die zögerliche, fast schon ängstliche Spielweise der Mannschaft. Torschütze Jude Bellingham fasste die Gemengelage nach dem Spiel anschaulich zusammen. "Für England zu spielen, ist schön, aber auch belastend bei all dem Müll, der geredet wird", sagte der 21-Jährige der Presse. "Der Druck ist enorm hoch, die Fans erwarten viel, die Leute reden viel. Du darfst es nicht persönlich nehmen." Das gilt auch für den Trainer.
"Ich weiss, welche Reaktionen kommen werden, obwohl wir gewonnen haben", sagte Southgate nach dem Spiel vor Pressevertretern. Für ihn bleibt es unangenehm, er steht seit Turnierbeginn im Dauerfeuer der Kritik, vor allem medial. Sehr wahrscheinlich wird ihm deshalb der überwiegend bieder-blutleere Auftritt trotz des Viertelfinaleinzugs um die Ohren fliegen. Doch so ein emotionaler Ritt zwischen Fast-Abflug und Weiterkommen kann auch ein Knotenlöser sein.
Den Fans war das in der Stunde des Sieges zunächst egal, sie feierten am Abend die ein Stück weit überraschende Tatsache, dass die Mannschaft mindestens bis zum kommenden Samstag noch im Turnier ist. In der Runde der letzten Acht geht es dann gegen die Schweiz. Der Titeltraum lebt also noch. Und das trotz Gareth Southgate.
Verwendete Quelle
- Gespräche mit Fans vor Ort
- Pressekonferenzen
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