Im Interview mit unserer Redaktion spricht Schiedsrichter Felix Brych unter anderem über die Comeback-Pläne nach seinem Kreuzbandriss, die Chancen des DFB-Teams bei der EM, die teils schwierige Situation für Unparteiische im Amateurbereich und die Kunst der Entscheidungsfindung.
Jede der zehn EM-Ausrichterstädte hat einen eigenen prominenten Host-City-Botschafter oder eine -Botschafterin. Sie hatten und haben die Aufgabe, in den Wochen und Monaten vor dem Turnierstart für EM-Stimmung zu sorgen und die jeweilige Stadt auf der grossen Fussballbühne entsprechend zu repräsentieren.
Felix Brych, der als Profi-Schiedsrichter mittlerweile über 800 Spiele geleitet hat, ist der Botschafter für München. Wir konnten den Weltschiedsrichter von 2017 und 2021 in der heissen EM-Vorbereitungsphase in München treffen und mit ihm sprechen.
Herr Brych, Sie sind in München geboren und zur Schule gegangen, haben hier auch Ihren Lebensmittelpunkt und sind jetzt Host-City-Botschafter der Stadt für die EM. Was bedeutet es Ihnen, Ihre Heimatstadt im Rahmen der EM repräsentieren zu dürfen?
Felix Brych: Das hat mir immer schon viel bedeutet. Bei jedem Spiel wurde ich als Schiri aus München vorgestellt und war damit schon mein Leben lang in einer gewissen Art Botschafter für meine Heimatstadt. Jetzt war ich richtig stolz, dass mich meine Stadt gefragt hat – vielleicht auch deshalb, weil sie erkannt hat, dass ich jetzt über 20 Jahre lang quasi den Namen der Stadt immer wieder in die Welt getragen habe. Es hat mich unglaublich gefreut, dass ich gefragt worden bin.
Was war Ihr Highlight bei den EM-Vorbereitungen?
Die Trophy Tour – das hat mir schon sehr gefallen, wie der Pokal kam. Das war dann das erste Mal, dass man die Euro haptisch spüren konnte. Der Beginn dieser Beziehung zwischen mir und der Stadt war ebenfalls toll für mich. Denn dann wurde es auch für mich greifbar, dass ich diese Rolle wirklich übernehmen darf.
Am Freitag hat das Warten dann endlich ein Ende, Deutschland eröffnet die Heim-EM gegen Schottland und das auch noch in München. Sind Sie im Stadion?
Ja, ich bin im Stadion. Die Stadt hat es mir ermöglicht, dass ich als Botschafter die Rolle dann auch visuell im Stadion übernehmen kann.
Was trauen Sie der deutschen Mannschaft bei der EM zu?
Es ist wichtig, dass wir eine Mannschaft gefunden haben, die gut zusammenpasst und in der die Mischung zwischen Alt und Jung stimmt. Das Wichtigste ist einfach, dass das erste Spiel gut läuft – das ist ganz wichtig bei so einem Turnier. Das weiss ich auch aus eigener Erfahrung als Schiedsrichter. Man darf auch den Heimvorteil nicht unterschätzen – das habe ich auch immer gemerkt, wenn ich Heim-Mannschaften gepfiffen habe. Ich glaube, dass wir dieses Mal wirklich sehr weit kommen können.
Neue Regel bei der EM 2024
Bei der EM gibt es diesmal eine neue Regelung: Nur noch die Kapitäne dürfen mit dem Schiedsrichter kommunizieren. Was halten Sie davon – und ist das überhaupt umsetzbar?
Ich finde, es ist eine ziemlich gute Idee, weil man als Schiedsrichter eh immer nur mit einem Menschen kommunizieren kann. Wenn dann sieben Leute auf einmal ankommen, hat das eigentlich keinen Sinn. In der Premier League wurde die Regelung bereits vor der Saison umgesetzt – da heisst es, dass es in der Praxis funktioniert hat. Diese Regel wurde aufgrund von Erfahrungswerten eingeführt und ich finde es gut, weil es dazu beitragen könnte, dass ein anderes Kommunikationslevel auf dem Platz entsteht und man auch normal miteinander umgehen kann.
Ständiges Meckern, übertriebenes Zeitspiel oder das Simulieren von Verletzungen: Was ist für Sie mittlerweile das grösste Problem während der Fussballspiele?
Das grösste Problem gibt es nicht. Es gibt immer wieder neue Probleme und da ist eben dann auch die Persönlichkeit des Schiedsrichters gefragt, diese Probleme zu erkennen und zu lösen. Jetzt hat die Uefa im Kommunikationsbereich Vorgaben gemacht, die helfen werden. Aber es gibt natürlich Spiele, wo zum Beispiel auf Zeit gespielt wird – und da muss ich eben dieses Zeitspiel unterbinden. Die Aufgabe eines Schiris ist es, dass man auch situativ und schnell erkennt, was heute Sache ist. Und da wird immer der Schiedsrichter gefordert sein. Den Schiri im Fussball wird es immer brauchen, weil eben genau diese Dinge zu lösen sind, die Sie angesprochen haben.
Brych erklärt, was einen guten Schiedsrichter ausmacht
Welche Eigenschaften braucht es, um als Schiedsrichter auf höchstem Niveau bestehen zu können?
Mut, eine ziemlich starke Persönlichkeit, Widerstandsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Handlungsschnelligkeit und auch eine körperliche Robustheit, weil wir natürlich das Spiel mitgehen müssen und dann zwei Tage später schon wieder bereit sein sollten für das nächste Spiel. Es ist eine Kombination aus mentalen und physischen Faktoren, aber das Mentale überwiegt eindeutig.
Zu den wichtigen Dingen gehört natürlich auch das Treffen von Entscheidungen, teilweise in Sekundenbruchteilen. Ist das etwas, was man lernen kann und muss, oder ist das Talent?
Man braucht eine gehörige Portion Talent, aber gross geworden bin ich über harte Arbeit. Das ist das Entscheidende. Die Entscheidungen trifft man über eine optimale Vorbereitung, weil in dem Moment, in dem die Entscheidung zu treffen ist, kann ich nicht mehr überlegen. Das heisst, ich muss vorher alles aufbauen, ich muss vorher mein Unterbewusstsein und meinen Instinkt so aktivieren, dass ich im richtigen Moment den richtigen Knopf drücken kann. Das war vermutlich auch meine grosse Stärke, dass ich das Gefühl für den richtigen Moment habe. Das ist die Kunst eines Schiris und ich glaube, davon hängt es auch ab, ob man den ganz grossen Wurf macht.
Können Sie auch im "normalen" Leben gut Entscheidungen treffen?
Ich bin schon ein Entscheider und will auch entscheiden. Das ist, denke ich, auch eine meiner grossen Stärken. Ich zögere oder hadere aber auch manchmal und ich bin überall im Leben bei weitem nicht so perfektionistisch wie im Job als Schiri. Das wäre zeitlich auch gar nicht möglich. Aber ich habe ein unglaublich gutes Bauchgefühl, dem ich vertraue – vor allem als Schiri, aber eben auch im Leben.
Können Sie das noch genauer erklären?
Grundsätzlich bin ich jemand, der entscheiden will, weil mit jeder Entscheidung das Leben weitergeht. Wenn man nicht entscheidet, dann bleibt man hängen und blockiert sich selbst irgendwo. Das habe ich über die Jahre gelernt, dass mit der Entscheidung der Weg, wohin auch immer, weitergeht.
Ist das auch etwas, was Nicht-Schiedsrichter von Schiedsrichtern lernen können?
Ja, definitiv. Das Thema "Entscheidungen treffen" ist zum Beispiel auch in der Wirtschaft oder Politik wichtig. Das finde ich unglaublich spannend und möchte es auch den Menschen in meinen Vorträgen weitergeben, mit Mut zu entscheiden und über diese Entscheidungen voranzukommen. Die mutigen Entscheidungen oder Entscheidungen an sich haben mich grösser gemacht und das gebe ich auch immer gerne weiter. Wenn ich die Chance hatte, zu entscheiden und es nicht gemacht habe, dann habe ich meistens etwas verloren oder liegen lassen.
Welches Ihrer geleiteten Spiele ist ihnen am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben?
Das waren die Endspiele, zum Beispiel das Champions-League-Finale. Aber auch die internationalen Spiele. Bei der letzten Euro habe ich das Halbfinale gepfiffen, Italien gegen Spanien. Das war das vorweggenommene Finale – damals in Wembley. Das waren schon besondere Spiele und wenn ich jetzt daran denke und darüber rede, kommt schon etwas Wehmut auf. Denn das wird nie wieder kommen.
Ist für Sie jedes Spiel gleich?
Nein, natürlich nicht, aber trotzdem habe ich in meiner Zeit gelernt, dass man jedes Spiel in einer gewissen Art gleich angehen muss. Man hat auch die Verantwortung gegenüber den Mannschaften, egal in welcher Liga und welchen Wettbewerb man pfeift. Die Mannschaften dürfen einen Top-Schiri verlangen, der gut vorbereitet ist. Am Ende ist ein Spiel in Wembley oder Bernabéu aber trotzdem etwas anderes als woanders.
Nach dem Spiel der Serben gegen die Schweiz bei der WM 2018 wurden sie aufgrund einer strittigen Entscheidung vom serbischen Trainer Mladen Kristajic massivst beleidigt. Er verglich Sie dabei mit einem Kriegsverbrecher. Was haben Sie damals gedacht, als Sie die unglaubliche Aussage gehört haben?
Ich möchte eigentlich nicht mehr darüber sprechen, weil am Ende ja alles gut ging und ich mit der Euro 2021 einen positiven Abschluss gefunden habe. Ich habe aus dieser Zeit meine Lehren gezogen. Ich habe viel umgestellt und besser gemacht beim nächsten Mal. Damals, als ich das mitbekommen habe, habe ich schon gewusst, dass es schwer wird, bei dem Turnier nochmal ein Spiel zu pfeifen. Ich bin dann aber so gestrickt, dass ich sage: "Jetzt erst recht!"
Wie ist es Ihnen im Anschluss gegangen?
Es hat mich schon alles ziemlich runtergezogen – weniger der Satz, sondern vielmehr, dass ich dieses Turnier nicht mehr weiterpfeifen kann. Dann habe ich mich neu aufgestellt und beim nächsten Turnier habe ich alles richtig gemacht und einen Rekord von fünf geleiteten Spielen aufgestellt. Deswegen sage ich, dass auch die schlechten Spiele in meiner Karriere wichtig waren. Die Langlebigkeit einer Sportlerkarriere hängt davon ab, wie man mit Niederlagen umgeht und die Niederlagen waren für mich auch immer eine Motivation, etwas zu verbessern.
Sie sind nicht auf Social Media vertreten. Aus Selbstschutz oder gibt es andere Gründe?
Einmal ist es Selbstschutz, ich möchte mich nicht so in der Öffentlichkeit zeigen. Ich biete genug Angriffsfläche mit meinen Entscheidungen – dann muss ich nicht noch privat Angriffsfläche bieten. Es ist aber auch ein Zeit-Thema: Ich habe immer versucht, mich auf meine Hauptaufgabe zu konzentrieren. Ich wollte mich über meine Spiele und Erfolge definieren und nicht über meine Worte. Das ändert sich mit der Zeit etwas, ich habe jetzt zum Beispiel auch ein Buch geschrieben. Aber vor fünf Jahren hätte ich das sicher nicht gemacht, weil ich meine Kraft in die Spiele reingesteckt habe. Ich wollte auch nie zwingend gefallen. Auf Social Media will man vornehmlich gefallen und ich wollte einfach mit meiner Leistung punkten. Und so wie ich es gemacht habe, würde ich es auch immer wieder machen.
Wie empfinden Sie den Umgang mit Schiedsrichtern mittlerweile? Vor allem im Amateurbereich kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen und Respektlosigkeiten.
Im Amateurbereich bin ich voll und ganz d'accord, das sehe ich ganz genauso. Was da in den letzten Jahren passiert, finde ich absolut übel und da brennen einigen Menschen viel zu oft die Sicherungen durch. Das ist unglaublich, das war früher auf jeden Fall nicht so. Im Profibereich kann ich jetzt nur von mir reden und das war in der Vergangenheit nicht so, wie Sie es angesprochen haben. Ich habe mir mit den Jahren eine gewisse Reputation aufgebaut, dass die Leute nicht mehr so an mich herantreten. Trotzdem ist es schon so, dass wir Schiris immer häufiger in den Mittelpunkt gerückt werden – nicht zuletzt durch den VAR. Es ist meiner Meinung nach auch ein billiges Thema, um Polemik oder Stimmung in die Szenerie hereinzubringen und das wird dann häufiger schon auch genutzt. Das fällt mir schon auf.
Haben Sie Tipps für junge Schiedsrichter?
Ich habe mich gegen diese Angriffe immer geschützt. Früher habe ich die Presse zum Beispiel gar nicht an mich herangelassen, ich habe überhaupt nichts von mir preisgegeben. Das war mein Schutz und dadurch habe ich möglicherweise auch etwas an meiner Popularität eingebüsst, aber letztlich hat es mir geholfen, weil mir Schutz wichtiger war als Popularität. Und ich würde das auch jungen Schiris empfehlen. Man muss als Schiedsrichter einen gewissen Schutzwall um sich herum aufbauen, sonst hält man es nicht lange aus.
Den VAR haben Sie gerade schon angesprochen. Sie haben einmal gesagt, dass Sie nicht mehr ohne ihn pfeifen würden. Warum?
Letztlich steht man auf dem Platz, um richtig zu entscheiden. Ich will gerecht sein und keine Mannschaft benachteiligen. Wenn ich die Chance bekomme, noch während des Spiels einen Fehler gutzumachen, dann ist das für mich doch optimal. Das Spiel hat sich verändert, es ist unglaublich schnell geworden und wir stossen mit unseren Augen irgendwann vielleicht auch mal an Grenzen. Ich möchte ungern erst nach dem Spiel erfahren, dass etwas falsch war, sondern lieber währenddessen.
Das Spiel zwischen Stuttgart und Frankfurt am 25. November 2023 war Ihr mittlerweile 344. Bundesliga-Spiel als Schiedsrichter. Damit sind Sie mit Wolfgang Stark gleichgezogen. Ausgerechnet in diesem Spiel haben Sie sich das Kreuzband gerissen und fallen seitdem aus. Wussten Sie direkt, dass es etwas Ernsteres ist?
Ich habe es schon geahnt. Das Knie wurde dann schnell auch immer wackliger. In der Pause haben wir uns dann darauf geeinigt, sicherheitshalber der schlimmsten Diagnose zu folgen. Körperlich war es dramatisch – es ist die schlimmste Verletzung, die man als Sportler haben kann. Rein sportlich war es aber nicht mehr dramatisch. Ich hatte mit dem Spiel alles erreicht, was ich wollte und damit hätte ich auch an dem Abend abtreten können, aber das wollte ich dann auch wieder nicht.
Wie geht es mit der Genesung voran?
Ich habe recht schnell gemerkt, dass ich nochmal zurückkommen kann. Die OP ist gut verlaufen, die ersten Wochen in der Reha waren ziemlich gut. Jetzt will ich nochmal zurückkommen und es sieht wirklich gut aus. Jetzt gebe ich nochmal Gas, damit ich auf den Platz zurückkomme.
Gibt es schon eine Prognose, wann Sie wieder auf dem Platz stehen können?
Zu Beginn der nächsten Saison. Wir peilen nach wie vor den ersten Spieltag an, aber ich will kein Risiko eingehen. Wenn es dann erst der fünfte Spieltag wird, ist das auch in Ordnung.
Ein Ziel haben Sie damit schon genannt. Was sind die weiteren?
Jetzt habe ich keine grossen Ziele mehr. Ich werde nie wieder ein Finale pfeifen, ich werde auch kein Turnier mehr pfeifen. Die ganz grossen Ziele sind also schon abgehakt. Jetzt geht es mehr von Spiel zu Spiel. Die Bundesliga ist es auf jeden Fall wert, sich nochmal zu quälen. Klar möchte ich jetzt nicht nur ein Spiel machen, sondern würde gerne noch zwei Jahre pfeifen. Aber wir müssen erstmal schauen, wie die ersten Wochen laufen.
Zum Abschluss nochmal zurück zur EM: Ihr Tipp für das Spiel der DFB-Elf gegen Schottland?
Ich habe in meinem Leben noch nie öffentlich getippt – und das wird auch so bleiben (lacht). Aber ich habe ja schon gesagt, dass ich hoffe, dass alles gut läuft und Deutschland weit kommt. Das erste Spiel ist auf jeden Fall ganz wichtig.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Felix Brych ist Profi-Schiedsrichter und hat mittlerweile über 800 Spiele in den verschiedensten Ligen und Wettbewerben als Unparteiischer geleitet. Mit 344 gepfiffenen Partien in der Bundesliga hält er gemeinsam mit Wolfgang Stark den Rekord. In der Saison 2016/17 war er Schiedsrichter des Champions-League-Finals zwischen Juventus Turin und Real Madrid. Nach der EM 2021 beendete der Weltschiedsrichter von 2017 und 2021 seine internationale Karriere. Der 48-Jährige lebt in München, ist beim Bayerischen Fussball-Verband (BFV) Leiter der Abteilung "Talentförderung und Schiedsrichter" und mittlerweile auch als Speaker in Unternehmen tätig. 2023 erschien sein erstes Buch ("Aus kurzer Distanz: Meine Erfolgsprinzipien als Weltschiedsrichter").
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