Im Viertelfinale zwischen Belgien und Italien rollte der Ball in der Schlussphase kaum noch. Doch der Schiedsrichter ging gegen die häufigen Verzögerungen von italienischer Seite nicht vor und bemass auch die Nachspielzeit zu gering. Das sollte der Unparteiische des heutigen Halbfinalspiels anders machen.

Alex Feuerherdt, Schiedsrichter
Eine Kolumne
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Es dürfte unstrittig sein, dass Italien bei dieser Fussball-Europameisterschaft nicht nur zu den Favoriten auf den Turniersieg gehört, sondern auch zu jenen Teams, die den schönsten Fussball spielen. Beobachten liess sich das zuletzt im Viertelfinale gegen die ebenfalls starken Belgier. Der 2:1-Sieg war phasenweise brillant herausgespielt.

Zu den Mitteln der Italiener, um den knappen Vorsprung zu sichern, gehörte allerdings auch etwas, das wesentlich unattraktiver ist als ihre Spielkunst: Durch teilweise deutliche Verzögerungen bei den Spielfortsetzungen und manchmal auch durch das Überzeichnen der Folgen von Körperkontakten sorgten sie mehrmals für störende Unterbrechungen.

Das beeinträchtigte den Spielfluss und bremste das belgische Drängen auf den Ausgleich. Eigentlich wäre es die Aufgabe von Schiedsrichter Slavko Vinčić gewesen, das regeltechnisch Mögliche gegen dieses Verhalten zu unternehmen – mit dem Ziel, es zu unterbinden. Doch der Referee liess Italien gewähren und bemass ausserdem die Nachspielzeit zu gering.

Ständige Unterbrechungen in der Schlussphase

Ein paar Zahlen mögen verdeutlichen, dass es hier nicht nur um einige Sekunden ging. In den letzten 21 Minuten der Partie, einschliesslich Nachspielzeit, war der Ball für gerade einmal neun Minuten im Spiel. Dass in dieser Phase so viel Spielzeit verloren ging oder vergeudet wurde, hatte unterschiedliche Anlässe:

  • 76. Minute: Leonardo Spinazzola verletzt sich im Sprint und zeigt sofort an, dass er ausgewechselt werden muss. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass er sich einen Achillessehnenriss zugezogen hat. Dennoch dauert es volle zwei Minuten, ehe die Sanitäter mit der Trage aufs Feld kommen. Die Unterbrechung nimmt insgesamt dreieinhalb Minuten in Anspruch.
  • Zwischen der 82. und 84. Minute bekommen die Italiener zwei Freistösse und einen Abstoss zugesprochen. Jedes Mal dauert es mehr als 30 Sekunden bis zur Ausführung. Der Schiedsrichter mahnt jedoch keine schnelle Spielfortsetzung an.
  • 89. Minute: Es gibt einen Freistoss für Belgien in der Nähe des italienischen Strafraums. Als Kevin De Bruyne ausführt, verkürzt Domenico Berardi den vorgeschriebenen Abstand von 9,15 Metern und lenkt den Ball ab. Schiedsrichter Vinčić zeigt ihm die Gelbe Karte und lässt den Freistoss wiederholen. Vom ursprünglichen Vergehen bis zur unbeanstandeten Ausführung vergehen fast zweieinhalb Minuten.
  • 90+1. Minute: Der italienische Torwart Gianluigi Donnarumma wird im Luftkampf von seinem Mitspieler Giorgio Chiellini am Oberkörper getroffen. Der Referee entscheidet jedoch auf Freistoss für Italien, weil er ein Vergehen von Axel Witsel wahrgenommen hat, der ebenfalls in der Nähe war, den Keeper aber nicht gefoult hatte. Donnarumma bleibt ausgiebig liegen und lässt sich behandeln, das dauert wiederum gut zwei Minuten.
  • 90+3. Minute: Nach einem Luftzweikampf geht Giovanni di Lorenzo zu Boden und hat es mit dem Aufstehen nicht eilig. Erneut vergeht eine halbe Minute.

Der Schiedsrichter unternahm nichts gegen die Verzögerungen

Nachdem die Begegnung bereits in der 71. Minute nach einer Verletzung des Belgiers Nacer Chadli sowie drei Auswechslungen – eine auf belgischer und zwei auf italienischer Seite – für drei Minuten unterbrochen war, wäre eine ausgedehnte Nachspielzeit von neun oder sogar zehn Minuten allemal angemessen gewesen.

Der slowenische Unparteiische beliess es jedoch bei fünf Minuten, die er nach der Behandlung von Donnarumma für zwei weitere Minuten verlängerte, von denen der Ball jedoch nur eine Minute lang rollte. Dabei liess sich der italienische Torhüter in den letzten 30 Sekunden beim Abstoss so viel Zeit, dass der Referee die Ausführung nicht mehr abwartete, sondern das Spiel beendete.

Slavko Vinčić unternahm letztlich nichts, um die Verzögerungen einzudämmen. Das wäre aber seine Aufgabe gewesen, denn es ist nicht damit getan, verlorene und vergeudete Spielzeit nachspielen zu lassen. Vielmehr geht es auch darum, Unterbrechungen so kurz wie möglich zu halten und Zeitschinderei zu ahnden.

Gewiss, ein Schiedsrichter ist kein Arzt und kann deshalb oft kaum einschätzen, wie ernsthaft ein Spieler verletzt ist. Aber er kann darauf drängen, dass auf dem Feld nur eine kurze Erstversorgung stattfindet und die Behandlung anschliessend ausserhalb des Platzes fortgesetzt wird. Davon ausgenommen sind die Torhüter und nicht transportfähige Spieler.

Die Spontanheilung von Ciro Immobile

Darüber hinaus sollte ein Referee mit Ermahnungen und nötigenfalls auch mit Verwarnungen zur Stelle sein, wenn ein Team sich auffällig viel Zeit damit lässt, den Ball nach einer Unterbrechung wieder ins Spiel zu bringen oder den erforderlichen Abstand einzunehmen. Slavko Vinčić hielt die Italiener jedoch nicht zu mehr Tempo an, sondern blieb diesbezüglich passiv.

Unangenehm aufgefallen war ein Spieler der "Squadra Azzurra" bereits in der ersten Hälfte. Vor dem Führungstor für Italien hatte es einen Zweikampf zwischen Ciro Immobile und Jan Vertonghen im belgischen Strafraum gegeben. Immobile spielte dabei den Ball, der Belgier traf nur den Fuss seines Gegners.

Während der Schiedsrichter weiterspielen liess, blieb der italienische Angreifer schmerzverzerrt am Boden liegen – um nach dem Tor für sein Team, das einige Sekunden später fiel, wie nach einer Spontanheilung plötzlich aufzuspringen und sich dem Jubel anzuschliessen.

Es war zwar keine "Schwalbe" von Immobile, schliesslich hatte Vertonghen ihn tatsächlich getroffen, womöglich sogar wirklich schmerzhaft. Aber so schlimm, dass der Stürmer wie ein Schwerverletzter liegen bleiben musste, war der Einsatz des belgischen Verteidigers ganz offensichtlich nicht.

Ist Felix Brych im Bedarfsfall konsequenter?

Der Schiedsrichter des heutigen Halbfinalspiels der Italiener gegen Spanien ist Felix Brych. Es ist bereits sein fünfter Einsatz bei diesem Turnier, was die grosse Wertschätzung zeigt, die der Schiedsrichter-Chef der UEFA, Roberto Rosetti, dem deutschen Referee entgegenbringt.

Brych ist in der Regel ein sehr konsequenter Unparteiischer, der auch gegen unsportliches Verhalten wie Zeitspiel und das offenkundige Übertreiben der Folgen von Zweikämpfen vorgeht. Zu wünschen ist ihm, wie überhaupt dem Fussball, dass er das gar nicht tun muss, wenn diese beiden grossartigen Mannschaften aufeinandertreffen.

Zu wünschen ist aber auch, dass er rechtzeitig einschreitet, falls eine der beiden Mannschaften das Spiel erkennbar verzögert, und geeignete Massnahmen ergreift. Eine saftige Nachspielzeit alleine genügt nicht.

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