Ein gesellschaftliches Tabuthema rückt in der Coronakrise wieder in den Blickpunkt: Depressionen. Sie machen vor dem Profifussball nicht Halt. Erinnerungen an Robert Enke werden wach. Der frühere Nationaltorwart sah für sich vor über elf Jahren keinen Ausweg mehr. Dies blieb nicht ohne Konsequenzen.
Robert Enke stand im Herbst 2009 kurz vor der Krönung seiner Karriere. Bundestrainer
Robert Enke sah keinen Ausweg mehr
Enke aber litt schon seit Jahren unter Depressionen. Sie besiegten den damals 32-Jährigen. Enke nahm sich am 10. November 2009 das Leben.
Elf Jahre später registriert eine Studie der Spielergewerkschaft FIFPro negative Auswirkungen des fussballerischen Stillstands, den die Bedrohung durch das Coronavirus ausgelöst hat. Der Prozentsatz der Fussballer, die über Symptome von Depressionen klagen, habe sich seit Beginn der Massnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 verdoppelt.
Zahl der Sportpsychologen ist gestiegen
Mehr denn je sind die Sportspsychologen gefragt, die für Verbände und Vereine arbeiten. "Auch an den Nachwuchsleistungszentren arbeiten heute Sportpsychologen. Da hat sich etwas bewegt", bewertet Sportwissenschaftler Prof. Dr. Frank Hänsel im Gespräch mit unserer Redaktion die Konsequenzen aus dem - neben Sebastian Deisler - bekanntesten Fall von Depression im deutschen Fussball.
Nichts hat sich seit Deisler und Enke jedoch am Anspruch geändert, unter dem Fussballer und auch alle anderen Spitzensportler ihrem Beruf und ihrer Berufung nachgehen. "Das Problem ist die Währung", wie es Hänsel nennt. "Denn im Spitzen- und Profisport zählen vor allem Erfolg und Leistung, über diese Währung funktioniert er. Alles andere, was dem entgegen steht, macht in diesem Sportsystem Schwierigkeiten."
Umfrage unter Sportlern
Wer mit diesen Schwierigkeiten nicht umzugehen weiss, gerät in noch grössere Schwierigkeiten - bis hin zu Depressionen. "Das allzu Menschliche, vor allem die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit, kommt am ehesten ins Spiel, wenn sie ins 'Geschäftsmodell' des Spitzen- und Profisports passt", sagt Hänsel.
22 Prozent der Spielerinnen und 13 Prozent der männlichen Profis, die zwischen dem 22. März und dem 14. April befragt wurden, klagten laut FIFPro über Symptome, die mit Depressionen zusammenhängen. FIFPro befragte 1.602 Spieler aus 16 Ländern. Bei einer Umfrage im Dezember und Januar, die allerdings in einer anderen, deutlich kleineren Gruppe stattfand, waren es elf Prozent der Frauen und sechs bei den Männern. Dies war vor dem weltweiten Ausbruch der Coronakrise. Sie hat in schwindelerregender Geschwindigkeit nicht nur das öffentliche, sondern auch das sportliche Leben lahm gelegt.
Weder die Fussball-EM findet wie geplant im Sommer 2020 statt, noch die danach angesetzten Olympischen Sommerspiele in Tokio. Die Bundesliga wurde Mitte März nach ihrem 25. Spieltag gestoppt.
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Junge Athleten stehen vor der Herausforderung Corona-Isolation
Der Chefmediziner der FIFPro, Dr. Vincent Gouttebarge, hält die Ergebnisse der erwähnten Studie vom methodischen Ansatz her für aussagekräftig und kommentierte sie wie folgt: "Plötzlich müssen junge Athletinnen und Athleten mit der Situation der Isolation klarkommen. Ihr Arbeitsleben ist unterbrochen. Dazu befallen sie Zukunftsängste."
Für den deutschen Schwimmstar Marco Koch sollte Olympia der Saisonhöhepunkt werden. Koch beschwerte sich bereits Anfang April in einem Interview mit dem Sport-Informations-Dienst (SID) über die "Ungewissheit", was die Dauer der Corona-Pause betrifft. "Das nervt einfach." Er habe darüber mit seinem Psychologen geredet. "Aber am Ende kann man nur abwarten und Tee trinken."
Prof. Dr. Hänsel spricht vom "Kontrollverlust", der nicht nur Sportler aus der gewohnten Bahn werfen könne. "In der derzeitigen Ausnahmesituation, in der sogar Experten nicht sagen können, wie es weitergeht, erleben wir ihn."
Dem widerspreche unser "grundlegendes Bestreben, dass wir gerne Kontrolle über das haben, was mit uns und mit anderen Menschen passiert." Hänsels Rat: "Dagegen hilft, dass Tagesabläufe ritualisiert werden, dass man feste Zeiten und wiederkehrende Tätigkeiten ausübt. Das gibt einem ein Gefühl der Kontrolle und der Vorhersagbarkeit. Das fördert die Zuversicht."
Koch geht mit seinem Trainer Dirk Lange einen Weg, den auch Hänsel für eine gute Alternative hält: "Wir können nun noch mehr Nuancen austesten", beschreibt Koch. Hänsel dazu: "Welche anderen Handlungsmöglichkeiten, an die ich vorher nicht gedacht habe, habe ich?"
Über die Beibehaltung von sportlichen Routinen hinaus gehe es für die Athleten vor allem darum, sich zu fragen: "Wie kann ich mich weiterentwickeln, was brauche ich, um besser mit Unsicherheiten und Kontrollverlust umzugehen?"
Hänsel: "Corona wirkt wie eine Verletzung"
Für Hänsel ist der Einfall der Coronakrise in das Leben der Athleten mit einer schweren Verletzung vergleichbar. "Sie erleben, dass es um Grenzen geht. Im Leistungssport wird ja immer versucht, Grenzen auszutesten, sie auch ein Stück weit zu überschreiten. Grenzen bedeuten aber auch, dass dort die eigene Fähigkeit der Vorhersage und des kontrollierten Handelns in Frage gestellt werden. Das haben sie nicht nur aktuell durch die Coronakrise, sondern auch, wenn sie gravierend verletzt sind."
Auch in einem solchen Fall bleiben grosse Ziele wie Olympia oder eine Fussball-EM unerreichbar. "Dann", so Hänsel, "stossen Athleten nicht nur an ihre körperlichen Grenzen." In der Coronakrise aber treffe diese Erfahrung "jetzt alle."
Wer damit nicht umzugehen weiss, ist eine Kandidatin oder ein Kandidat für Depressionen. Hänsel spricht von "dysfunktionalem Perfektionismus." Der Athlet hänge zu sehr an seinen Fehlern. Oder er könne sich "von den hohen Ansprüchen, die er an sich stellt, die aber gar nicht mehr realisierbar sind, nicht lösen. Es kann sein, dass der Athlet sich zu hohe Ziele gesteckt hatte, oder aber, dass seine Ziele aus Gründen, die er nicht zu verschulden hat, nicht mehr zu realisieren sind." Dafür sorgt derzeit die durch das Coronavirus ausgelöste Pause im Spitzensport.
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