Die Fans von Hansa Rostock sorgen mit Ausschreitungen regelmässig für Schlagzeilen, aufgrund der Gewaltbereitschaft und Hemmungslosigkeit aber auch für Fassungslosigkeit. Wir haben mit dem Fanforscher Dr. Harald Lange über die Hintergründe und mögliche Massnahmen gesprochen.
Herr Lange, sind die Fans von Hansa Rostock die schlimmsten in Deutschland?
Harald Lange: Aktuell liefern sie leider immer wieder Beispiele, die diese Einschätzung rechtfertigen – und das nicht nur punktuell, sondern schon seit vielen Jahren. Die Fans von Hansa Rostock fallen regelmässig durch Gewalt und Grenzüberschreitungen auf. Gleichzeitig ist zu erkennen, dass die Vereinsführung realisiert, wie sehr dieses Verhalten dem Image des Vereins schadet. Doch offensichtlich fehlt die Handhabe oder die Durchsetzungskraft, um regulierend einzugreifen.
Hat der Osten ein grösseres Gewaltproblem als der Westen?
Man könnte vorschnell "Ja" sagen. Rostock, Dresden und einige andere sind immer wieder in den Schlagzeilen. Doch es wäre zu einfach, daraus ein Ost-West-Problem zu machen. Denn dann müsste man ja fast eine historische oder gesellschaftliche Erklärung heranziehen – etwa, dass die Vergangenheit in der DDR noch heute in den nachfolgenden Generationen spürbar sei. Doch dafür gibt es keine belastbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse. Ja, es fällt auf, dass einige problematische Fanszenen aus dem Osten kommen. Doch es gibt auch westdeutsche Vereine mit ähnlichen Strukturen, etwa in manchen Ruhrgebietsklubs. Das zeigt, dass das Problem nicht an einer Region oder an einer historischen Prägung festzumachen ist.
Trotzdem hat man den Eindruck, dass es gewaltsamer zugeht – enthemmter…
Vielleicht muss man das Thema auf einer ganz anderen Ebene betrachten. Gewaltbereitschaft – vor allem unter Jugendlichen – hängt oft mit sozialen Faktoren zusammen, mit fehlenden Perspektiven, Frustration, Arbeitslosigkeit und schlechten Bildungschancen. In einigen Regionen Ostdeutschlands sind diese sozialen Herausforderungen besonders ausgeprägt, genauso wie in manchen westdeutschen Industriestädten. Man sollte das Problem also nicht an der Geografie, sondern an den sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen festmachen.
Polizei setzt weniger auf Deeskalation
Zuletzt kam es beim Spiel gegen Dynamo Dresden erneut zu heftigen Vorfällen. Wie kann so etwas passieren, obwohl man vorher weiss, dass Eskalationspotenzial gibt?
Möglicherweise müsste die Polizeistrategie bei solchen Fanszenen anders ausgerichtet werden, als es etwa bei Spielen wie Hannover gegen Wolfsburg der Fall wäre. Es stellt sich die Frage, ob die Massnahmen differenziert genug sind oder ob sie für verschiedene Szenarien noch einmal grundsätzlich überdacht werden müssen. Klar ist: Die Polizei setzt seit einigen Jahren verstärkt auf Präsenz und Durchgreifen, auch im Westen, allerdings weniger auf Deeskalation. Die Erfahrungen zeigen, dass Druck, Strafen und Verbote das Problem nicht lösen, sonst wäre es längst eingedämmt. Rostock ist ein Beispiel dafür, wie das Problem über Jahrzehnte hinweg kultiviert und nicht weniger wird.
Ist der Verein machtlos – oder will er nichts unternehmen?
Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Ein Verein hat immer eine gewisse informelle Beziehung zu seinen Fanszenen, und diese kann er nicht ohne weiteres ignorieren oder aufbrechen. Viele Laien stellen sich vor, dass ein Verein einfach konsequent durchgreifen müsste. Doch in der Praxis ist das nicht so einfach. Die Fanszenen haben über Jahre eigene Machtstrukturen aufgebaut, mit denen sich die Vereinsführung auseinandersetzen muss. Für einen Verein ist dieses Thema also hochsensibel und heikel. Er ist auf den Austausch mit den Fangruppen angewiesen, um Schlimmeres zu verhindern. Wenn dieser Kommunikationskanal abreisst, verliert der Verein endgültig den Zugriff auf die eigene Fanszene.
Warum findet in der Fanszene selbst keine Regulierung statt?
Das ist eigentlich der Schlüssel zur Gewaltprävention. Viele Vereine haben erfolgreiche Projekte ins Leben gerufen, um genau das zu fördern, und das ist ein entscheidender Grund, warum Gewalt dort weniger ein Problem ist. Aber: Fanszenen sind nie homogen. Es gibt interne Rivalitäten darüber, wer die "wahren" Fans sind und welche Gruppen welche Privilegien haben. Die Hierarchien innerhalb der Szene sind nicht starr, sondern organisch gewachsen. Und genau das scheint mir in Rostock aus den Fugen geraten zu sein. Die selbstregulierenden Mechanismen greifen dort nicht oder entwickeln sich viel langsamer. Hier müssen Fanprojekte weiter intensiv gefördert werden, um langfristig Veränderungen zu erreichen.
Welche Rolle spielen in Rostock Ultras und Hooligans in dieser Problematik?
Die Gewaltbereitschaft geht vor allem von den Ultras aus. Sie sind es, die sich durch Provokationen und Eskalationen in den Vordergrund spielen und bewusst Aufmerksamkeit erregen wollen. Eine klassische Hooligan-Szene, wie man sie aus den 1990er- und frühen 2000er-Jahren kennt, ist ein überwundenes Phänomen, sie treten nur noch vereinzelt auf. Während Hooligans früher hauptsächlich wegen der Konfrontation anreisten, haben Ultras eine starke Vereinsbindung. Ein gravierendes Problem ist jedoch der harte Kern, der regelmässig neue Mitglieder mitreisst. Es gibt eine hohe Rekrutierungsdynamik, sodass sich immer wieder junge Fans finden, die sich von der Gruppendynamik anstecken lassen. Das erklärt auch, warum es immer wieder zu massiven Ausschreitungen kommt.
"Es geht um das Ablassen von Frust und Aggression"
Was steckt denn genau hinter diesen Ausschreitungen? Ob jetzt Rassismus, Homophobie oder einfach nur Gewalt – da ist ja alles dabei…
Diese Beliebigkeit zeigt, dass es weniger um gezielte Botschaften geht als vielmehr um das Ablassen von Frust und Aggression. Viele der beteiligten Jugendlichen sind offenbar in ihrem Leben perspektivlos, sozial isoliert oder von ihrer Umgebung frustriert. In der aufgeheizten Atmosphäre eines Stadions oder auf dem Weg dorthin entsteht dann eine Gruppendynamik, in der Hemmungen fallen und Aggressionen eskalieren. Die Gewalt ist für viele kein politisches Statement, sondern ein Ventil für persönliche Unzufriedenheit.
Rassismus wird aber auch durch Plakate in Spielen gegen St. Pauli offen zur Schau getragen. Wieso ist die Rostocker Fanszene da so "speziell"?
Man kann auch sagen: so richtig geschmacklos. Die sind nicht dumm, die sind nicht dämlich, die wissen genau, was sie da machen. Und dass sie mit solchen Motiven, mit solchen Botschaften Aufmerksamkeit generieren, Debatten anzetteln und sich massiv ins Abseits manövrieren. Und das nehmen sie in Kauf, weil sie provozieren wollen. Geschmacklose Provokationen tauchen gerade häufiger im Fussball auf. In Rostock treten sie aber vermehrt auf und sind im geschmacklosen Sinne facettenreicher. Teilweise ist es unterirdisch, komplett hemmungslos. Und dazu ohne jeden Lerneffekt. In Rostock stösst man mit den bekannten Erklärungsansätzen an Grenzen. Warum die so sind - da bin ich ein Stück weit ratlos.
Haben die Ultras in Rostock zu viel Macht?
Ja, sie haben zu viel Macht. Zumindest liefern sie zahlreiche Argumente dafür, dass sie eine übermässige Kontrolle über die Fanszene und den Verein ausüben. Natürlich kann man Fan-Gruppierungen mit einer gewissen Gelassenheit begegnen, sie in den Vereinsalltag einbinden und in gewissen Bereichen auch Verständnis zeigen. Doch dafür müsste eine Selbstregulierung innerhalb der Fanszene erkennbar sein – und genau das passiert in Rostock nicht. Wenn eine Fan-Gruppierung keine Anzeichen von Gewaltprävention zeigt und stattdessen regelmässig für Ausschreitungen sorgt, wäre es nachvollziehbar, wenn die Behörden restriktiv vorgehen.
Welche konkreten Massnahmen sind denn gefragt?
Es verwundert, dass hier nicht viel stärker durchgegriffen wird mit Massnahmen wie Blocksperren oder konsequenten Stadionverboten. Offenbar scheut die Vereinsführung den direkten Konflikt mit der eigenen Fanszene, möglicherweise aus Angst vor persönlichen Konsequenzen oder vor einer Eskalation innerhalb des Stadions. Es braucht vor allem präventive und konsequente Massnahmen auf rechtsstaatlicher Grundlage. Wer für Ausschreitungen verantwortlich ist, muss mit der vollen Härte des Gesetzes konfrontiert werden.
Kollektivstrafen sollten vermieden werden - eigentlich
Also auch Kollektivstrafen wie Geisterspiele?
Eigentlich sollte man Kollektivstrafen vermeiden, da sie oft das Gegenteil bewirken: Statt eine Problematik einzudämmen, wächst der Zusammenhalt innerhalb der gewaltbereiten Szene, und die Polizei wird zum Feindbild. Vergangene Geisterspiele haben gezeigt, dass sie keine nachhaltige Wirkung haben. Man müsste vor allem untersuchen, wie die Fanbetreuung und Fanprojekte aufgestellt sind. Welche präventiven Massnahmen gibt es? Wie ist der Zugang zu diesen Gruppen? Aber es handelt sich um ein tief verwurzeltes Problem.
Interessant ist ja, dass die Ultras quasi unmittelbar neben den Auswärtsfans untergebracht sind. Warum wird da nichts verändert?
Das ist komplett unlogisch und unverständlich. Eine einfache Verlegung der Blöcke könnte bereits viele Eskalationen verhindern. Dass hier nichts geändert wird, lässt den Verdacht zu, dass die Fanszene mehr Macht hat als der Verein selbst. Und der Verein kann sich in seinem eigenen Haus nicht durchsetzen, diese Strukturen aufbrechen und Veränderungen durchsetzen. Dabei wäre eine Anpassung der Blöcke eine logische, transparente und schnell umsetzbare Massnahme, die sofort Wirkung zeigen würde.
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Harald Lange ist seit 2009 Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg, Gründer des Instituts für Fankultur e.V. und Dozent an der Trainerakademie des DOSB in Köln. Zuvor war er unter anderem Professor für Sportpädagogik an einer Pädagogischen Hochschule (2002-2009) und Gastprofessor an der Universität Wien (2008-2009). Lange hat über 3000 wissenschaftliche Arbeiten publiziert – davon mehr als 50 Bücher und Sammelwerke.