Ein schneller Spielabbruch, ein Platzsturm, bei dem Fans und Spieler aufeinander einprügelten, und ein Aufstand gegen das System. Fenerbahce Istanbul steht derzeit im Mittelpunkt des türkischen Fussballs. Doch wie kam es dazu?
Nächster Skandal im türkischen Fussball: Am 7. April sollte der Supercup zwischen Fenerbahce und Galatasaray ausgetragen werden. Angepfiffen wurde die Partie zwar noch regulär, wenige Minuten später aber war das Ganze schon wieder vorbei. Denn: Fenerbahce schickte ein U19-Team, kassierte in der ersten Minute das 0:1 und ging kurz danach geschlossen vom Platz, begleitet von einem lautstarken Pfeifkonzert.
Die Menschen im Stadion reagierten unterschiedlich: Einige Fans schauten ungläubig auf das Feld, konnten nicht fassen, was gerade passiert war. Pfiffe hallten weiterhin durch die Arena. Die Spieler von Galatasaray, allen voran Torschütze Icardi, applaudierten höhnisch, als der Gegner das Feld auf Anweisung des Trainers verliess. Und als die Kamera auf die Verantwortlichen des türkischen Verbandes schwenkte, war ihnen das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Dieser Vorfall ist aber nur die Spitze des Eisbergs.
Platzsturm-Skandal bringt das Fass zum Überlaufen
Nach dem Spielabbruch veröffentlichte "Fener" laut "Kicker" ein Statement: "Wir betonen, dass wir nicht angetreten sind, um zu gewinnen, sondern um die Wahrheit zu verteidigen, und an diesem historischen Tag für den türkischen Fussball wollen wir unsere Haltung unterstreichen." Welche Haltung? Nun, Fenerbahce fühlt sich vom Verband seit Jahren benachteiligt und im Stich gelassen. Zur Eskalation beigetragen hatte zuletzt der Platzsturm beim Spiel gegen Trabzonspor. Beim Spiel im März stürmten Fans des gegnerischen Teams auf den Platz, griffen die Spieler körperlich an. Der Verband verurteilte die Attacke, die Wogen waren damit aber nicht geglättet.
Um die Ereignisse noch besser einordnen zu können, haben wir uns mit Süleyman Tetik, einem Sportjournalisten aus der Türkei, unterhalten. Die Wut gegen den Verbandspräsidenten Mehmet Büyükeksi geht derweil nicht nur von Fenerbahce aus: "Die Fans, die Öffentlichkeit und einige Vereine fordern den Rücktritt vom Präsidentenamt. Dass es unter seiner Leitung dazu kam, dass der Präsident von Ankaragücü Schiedsrichter Halil Umut Meler auf dem Spielfeld verprügelte und vor allem, dass der Umgang seitens des Verbandes damit höchst unsouverän war, wird ihm angelastet."
Doch zurück zum Platzsturm gegen Trabzonspor. Spannungen zwischen den Klubs gab es schon länger, die Situation in besagtem Spiel war aber besonders. "Die Fans waren sehr wütend, warfen schon früh Wasserflaschen, ohne, dass eingegriffen wurde. Nach dem Angriff erhielten die Zuschauer, die auf das Feld stürmten, kaum Strafen. Diese Situation heizte das Chaos noch mehr an", sagt Tetik.
Mehrere Vorkommnisse rund um Fenerbahce
Und Fenerbahce ist immer wieder mittendrin, wenn es Chaos und Skandale gibt. Laut Klubaussage kämpft man "seit 20 Jahren" gegen das "ungerechte Fussballsystem" in der Türkei. Das häufig unterbrochene Spiel gegen Denizlispor am letzten Spieltag der Saison 2005/06, in dem der Rhythmus völlig verloren ging, schliesslich mit einem Remis endete und damit den Verlust der Meisterschaft bedeutete, wird heute noch oft als Beispiel angeführt.
Ein weiteres Beispiel: 2010/11 gab es Vorwürfe der Spielmanipulation. Der Rechtsstreit zur Klärung dauerte zehn Jahre, ehe am Ende die Unschuld bewiesen wurde. Das ging mit erheblichen finanziellen Verlusten einher. Prozesskosten mussten ebenso bezahlt werden wie Anwälte, auch auf mögliche Sponsoren wirkte sich ein solcher Vorwurf negativ aus. Zu den grössten Skandalen gehörten die Schüsse auf den Mannschaftsbus 2015, woraufhin Fenerbahce einen Boykott ankündigte und der gesamte Spieltag abgesagt wurde. Bezeichnend: Die Täter wurden bis heute nicht gefasst.
Fenerbahce: Präsident kein Unschuldslamm
Dass Fenerbahce-Präsident Ali Koc aufgrund dieser Vorkommnisse nicht gut auf den Verband zu sprechen ist, mag noch verständlich sein. Aber daraus einen Aufstand gegen "das System" zu machen, ist übertrieben. Kürzlich stand innerhalb des Vereins sogar ein Ausstieg aus der türkischen Liga zur Debatte.
Experte Süleyman Tetik erklärt: "Koc behauptet immer wieder, dass Fenerbahce das Opfer sei. Er behauptete, dass die Rechte von Fenerbahce verletzt wurden. Er führte die Tatsache, dass Fenerbahce während seiner 6-jährigen Präsidentschaft in fünf Spielzeiten nicht Meister wurde, auf die Missstände im Verband zurück. Auf diese Weise heizte er auch die Fenerbahce-Fans an. Er berief sofort die Mitglieder der Generalversammlung zu einer ausserordentlichen Sitzung ein. Er sagte, sie würden entscheiden, ob sie aus der Liga aussteigen wollten."
Die Liga verlassen wird Fenerbahce nicht, die Abstimmung scheiterte. Der Präsident ist in jedem Fall auch kein Unschuldslamm, auch wenn seine Kritik am Verband in einigen Teilen berechtigt ist. Koc ist Erbe der reichsten Familie der Türkei, weiss seinen Einfluss und seine Stimme für seine Zwecke zu nutzen. Sogar direkte Kritik an den Schiedsrichtern wird geübt, erklärt Tetik: "Er sagt, die Schiedsrichter würden systematisch gegen Fenerbahce arbeiten. Allerdings: Es lassen sich auch regelmässig Entscheidungen zugunsten des Klubs erkennen. Da ist nichts dran."
Eine ganz grosse Eskalation ist also ausgeblieben. Trotzdem wirft gerade der Spielabbruch ein schlechtes Licht auf den türkischen Fussball und damit auch Fenerbahce selbst. Die massiven Vorwürfe der bewussten Benachteiligung treffen nicht zu, trotzdem ist Kritik an Verband und System berechtigt.
Ob Fenerbahce bald zur Ruhe kommt, wird auch vom Präsidenten und seinem möglichen Verbleib abhängig sein. Vielleicht würde es sein Gemüt beruhigen, wenn sich die Struktur im türkischen Verband ändert. Der aktuelle Verbandspräsident geniesst wenig Rückhalt, eine gute EM könnte ihn aber rehabilitieren. Veränderungen auf einer höheren Ebene sind aber noch einmal wichtiger, wie unser Experte abschliessend erklärt: "Damit der türkische Fussball diesem tiefen Chaos entkommen kann, muss sich zunächst das politische Umfeld ändern. Es scheint sehr schwierig zu sein, den türkischen Fussball zu verändern, ohne die Türkei als solche zu verändern." Fenerbahce jedenfalls will seinen Kampf weiterführen.
Über den Gesprächspartner
- Süleyman Tetik ist türkischer Sportjournalist, der sich primär mit dem Fussball in der Türkei beschäftigt. Gegenwärtig ist er für das türkische Medium Mackolik tätig, zuvor arbeitete er unter anderem für NTV Spor, Goal Türkiye und HT Spor.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Süleyman Tetik
- X.com: gpatric10
- kicker.de: Eklat in der Türkei: Trabzonspor-Fans stürmen Feld und attackieren Fenerbahces Spieler
- spiegel.de: Schüsse auf Fenerbahce-Bus: "Man wollte unsere Spieler töten"
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